Das absolute Tonbewußtsein und die Musik.

Originally published in Sammelbände des Internationalen Musikgesellschaft, Volume 8, pages 486-91, 1907

Otto Abraham, Berlin.

Im vorletzten Heft dieser Zeitschrift [1] wendet sich Herr Professor Felix Auerbach gegen eine von mir vor fünf Jahren veröffentlichte Abhandlung [2]; er polemisiert ausschließlich gegen die beiden letzten Kapitel meiner Arbeit, in denen ich den Wert des absoluten Tonbewußtseins für die praktische Musik untersucht habe. Ich hatte darauf hingewiesen, daß das absolute Tonbewußtsein zwar für den sinnlichen Genuß beim Hören von Musik ebenso wie für musikalische Reproduktion und Produktion keine ünerläßliche Bedingung ist, daß es dagegen unentbehrlich ist für den vollen intellektuellen Genuß musikalischer Werke und für manche Form musikalischer Betätigung. Ich erörterte fernerhin die Beziehungen des absoluten Tonbewußtseins zum Intervallbewußtsein, zeigte, daß dieses zwar meistens stärker ist als das absolute Tonbewußtsein, daß es aber zahlreiche Fälle gibt, in denen das Intervallbewußtsein derart von dem absoluten Tonbewußtsein unterdrückt wird, daß einer eventuellen Transposition in eine andere Tonart erhebliche Schwierigkeiten erwachsen.
Herr Auerbach gibt zu, daß ein absolutes Tonbewußtsein existiert, auch daß es seltener gefunden wird als das Intervallbewußtsein, bezweifelt aber, daß es etwas Ursprüngliches und Elementares sei und streitet ihm eine besondere Bedeutung für die Musik ab. Speziell wendet er sich gegen den erwähnten Einfluß des absoluten Tonbewußtseins auf die Transposition.

Zum Beweise seiner Behauptungen findet er es notwendig, die Fähigkeit des absoluten Tonbewußtseins durch ein kleines satirisches Bild lächerlich zu machen: Ein Architekt habe einen ausgebildeten Sinn für die Höhe über dem Meeresspiegel, ein absolutes Seehöhenbewußtsein, vielleicht infolge der mit der Seehöhe verknüpften Umstände (Luftdruck usw.). Der Architekt soll nun eine Villa, deren Bauplan er für München entworfen hatte, in Dresden errichten. Er scheitert hieran, weil er ganz neue Pläne entwerfen muß, denn durch sein absolutes Seehöhenbewußtsein ist ihm eine Transposition des Bauplanes auf ein anderes Niveau unmöglich.

Herr Auerbach vergleicht also das absolute Tonbewußtsein mit dem absoluten Seehöhenbewußtsein, das musikalische Komponieren mit dem Entwerfen eines Bauplanes, die Tonhöhentransposition mit Niveautransposition.

Während es aber ein absolutes Tonbewußtsein tatsächlich gibt, existiert ein absolutes Seehöhenbewußsein nicht. Auch unterliegen Luftdruck und Temperatur, an denen die Seehöhe meßbar wäre, so starken Witterungsschwankungen, daß die für einen Hausbau in Betracht kommenden Druckdifferenzen viel zu klein sind im Vergleich zu ihnen.

Während außerdem beim Hausbau nur ganz gewaltige Seehöhendifferenzen einen Einfluß auf die mechanischen und ästhetischen Eigenschaften eines Hauses haben können-- auf dem Montblanc kann man allerdings nicht so bauen wie in Jena-- haben in der Musik nicht nur die großen Tonhöhenunterschiede eine Bedeutung für den Charakter des Tonstücks. Herr Auerbach zwar hält nur die Unzulässigkeit der großen Tonverschiebungen für selbstverständlich; für fein differenzierte Ohren dagegen ist es oft noch eine weit ärgere Geschmacklosigkeit, eine Melodie um einen Ganzton zu transponieren, als »das Lied 'Im kühlen Keller' von einem hellen Sopran singen zu lassen». Man denke daran, wie sich manche Komponisten gegen die Transposition ihrer Werke sträuben. Der Einfluß der absoluten Tonhöhe und die Tonartencharakteristik bestehen nun einmal heute, und daran ändert auch die wechselnde Geschichte des Kammertons nichts.-- Das Gleichnis Auerbach's zeigt also in dem tertium comparationis bedenkliche Mängel; ich möchte aber noch weiter auf dasselbe eingehen.

Angenommen, es gäbe einen Menschen, der mit einem absoluten Luftdruckbewußtsein auch für ganz kleine Druckdifferenzen begabt wäre, und meteorologische Einflüsse kämen nicht in Betracht, so ließe sich das Gleichnis immer noch nicht auf unsern Fall anwenden. Denn die Seehöhenunterschiede würde ein solcher Mensch doch nur aus den Luftdruckunterschieden erschließen. Das eigentliche absolute Tonbewußtsein dagegen ist, wie ich in einem besonderen Kapitel meiner Arbeit nachgewiesen habe, völlig unabhängig von allen mittelbaren Kriterien. Herr Auerbach müßte also nicht bloß eine Luftdruckempfindung, sondern geradezu eine unmittelbare Seehöhenempfindung voraussetzen, um die Fälle vergleichbar zu machen.

Er hat aber das Wesen der absoluten Tonhöhenschätzung überhaupt mißverstanden, wenn er es mit räumlichen Maßbestimmungen koordiniert. Diese erfolgen durch einen Maßstab mit Nullpunkt; der Abstand vom Nullpunkt ist die sog. absolute Größe. Genau so stellt sich Herr Auerbach die Tonskala vor als eine sehr lange aber begrenzte Linie, auf der man jeden Punkt auffassen könne durch die Relation zu einem der Endpunkte.

Es kann aber nicht die Rede davon sein, daß man bei einem absoluten Tonhöhenurteil etwa die obere oder untere Tongrenze sich mit vorstellt. Man hört den Ton und erkennt an seiner Beschaffenheit, daß es d3 ist, ganz so, wie man eine Farbe sieht und an ihrer Qualität erkennt, daß es smaragdgrün ist.

In den Endregionen der Tonskala, jenseits der Kontraoktave und der fünf gestrichenen Oktave versagt das absolute Tonbewußtsein völlig, so fein es auch in mittleren Tonlagen entwickelt sein kann. Nach Herrn Auerbach müßte gerade das Gegenteil der Fall sein. Weiterhin müßte, wenn die Auerbach'sche Definition des absoluten Tonbewußtseins zu Recht bestände, eine Tonhöhenverwechslung umsoweniger möglich sein, je weiter die Töne auf der Skala auseinander standen. Ich habe aber in meiner Abhandlung nachgewiesen, daß für Musiker, die ein absolutes Tonbewußtsein haben, eine Verwechslung eines c mit einem d ganz unmöglich, die eines c mit einem um eine Oktave höheren oder tieferen c sehr häufig ist.

Das zweite Hilfsmittel, das Herr Auerbach für das absolute Tonurteil angibt, besteht in mittelbaren Kriterien. Er meint, außer dem Abstand von den Grenzen seien allerlei Ungleichartigkeiten in der Tonlinie (die Mängel und kritischen Punkte musikalischer Instrumente u. dgl.) das einzige Hilfsmittel. Er vergleicht die Tonlinie insofern einer nicht idealen, sondern nur mangelhaft hergestellten Geraden, mit allerlei Verdickungen, kleinen Unterbrechungen u. dgl. Nun habe ich selbst Einflüsse solcher Art ganz ausführlich besprochen. Aber ich muß wieder darauf hinweisen, daß es nun tatsächlich ein absolutes Höhenurteil auch ohne solche Hilfsmittel gibt, und zwar ein feineres und sicheres, als es diese Hilfsmittel ermöglichen: Somit ist auch diese optische Vergleichung hinfällig. Was hier Auerbach noch über die Gehörknöchelchen, die Schneckenfasern und das Zentralorgan andeutet, ist mir nicht unbekannt, hat aber mit der Beschreibung des rein psychologischen Tatbestandes, um den es sich hier handelt, nichts zu tun.

Physikalisch können allerdings die Töne nach Schwingungszahlen, musikalisch können sie nach Tonleitern geordnet werden, aber deshalb wird doch nicht jeder Ton psychisch als Skalenpunkt aufgefaßt. Hierbei macht es auch keinen Unterschied, daß es bei der Unvollkommenheit unseres Gehörs und unseres Gedächtnisses nicht jede einzelne Schwingungszahl als Einzelton im Gedächtnis fixiert wird, sondern daß ein »Ton« psychologisch immer einen mehr oder weniger großen Tonbezirk bedeutet. Bei dem Halbton ist nur durch die musikalische Benennung eine gewisse sprachliche Grenze gezogen. Der eigentliche psychische Prozeß der Tonauffassung, abgesehen von der Assoziation mit dem Tonnamen, hat aber über diese Grenzen sowohl nach innen wie nach außen noch Geltung. Selbst die Benennung eines Tones als hoch oder tief ist keineswegs auf eine Vergleichung mit einem Nullpunkt oder Höhepunkt angewiesen. Man nennt einen Ton hoch, nicht weil er im Gegensatz zu einem tiefen steht, sondern weil er die bekannten absoluten Eigentümlichkeiten der hohen Töne besitzt [3].
Herr Auerbach, der Physiker, hat eben den Begriff »absolut« in physikalischer Weise aufgefaßt und auf psychische Verhältnisse übertragen. Er unterscheidet zwei Begriffe des Absoluten, erstens absolut gemessen, d. h. in absoluten Einheiten ausgedrückte Verhältniszahlen, von diesen meint er, daß sie uns hier nichts angehen; zweitens eigentlich absolute, d. h. auf einer Skala mit einem Nullpunkt verzeichnete Größen, zu welchen er eben die absolute Tonhöhe rechnet.
Physikalisch kann jeder Ton meines Erachtens in jeder der beiden Weisen gemessen werden, sowohl nach dem Zentimetergrammsekunden-system wie durch Abschätzung nach einem willkürlich gewählten Nullpunkt; psychologisch aber messen wir weder nach dem einen noch nach dem andern System, denn wir messen überhaupt nicht, wir zählen weder bewußt noch unbewußt die Tonschwingungen, sondern haben absolute Gehörsempfindungen, die den Urteilen zugrunde liegen.

Was will aber Herr Auerbach eigentlich mit seiner Polemik?

Da er die Tatsache des absoluten Tonbewußtseins nicht bestreiten kann, bleibt ihm nur übrig, ein Werturteil über dasselbe abzugeben. Er nennt einen Menschen, »dessen Intervallsinn sich durch das Sandkörnlein der Transposition aus dem Geleise bringen lasse«, eminent unmusikalisch.

Die ganze Gewalt dieses Diktums hängt an dem Ausdruck »Sandkörnlein«. Die Transposition ist in musikalischer Hinsicht eben kein Sandkörnlein. Überdies handelt es sich um ein »Aus dem Geleise Bringen« nur unter ganz speziellen Umständen, und das ist nicht blos bei meiner Wenigkeit sondern bei zahlreichen Personen von unbezweifelbar hoher musikalischer Begabung (s. meine Abhandlung S. 78-79) einfach Tatsache.

Wenn Herr Auerbach behauptet, daß zum Musikalischsein unbedingt ein Intervallsinn gehöre, dann gebe ich ihm völlig Recht; aber ich habe auch garnicht behauptet, daß der Intervallsinn dem mit absoluten Tonbewußtsein begabten Musiker fehlt; im Gegenteil betonte ich, daß auch bei Musikern, die ein absolutes Tonbewußtsein besitzen, doch meist das Intervallbewußtsein noch stärker ausgeprägt ist als jenes« (S. 77). Das Gefühl für den Konsonanzgrad der Intervalle, die Empfindung der Verschmelzung und auch die Beurteilung und Benennung eines Intervalles ist nicht erschwert trotz der ebenfalls vorhandenen absoluten Tonhöhenurteile. In den meisten Fällen unterstützen sich absolute Tonhöhen-und Intervallvorstellungen und befördern so die Sicherheit des Urteils. Nur beim Gesänge transponierter Musik und beim Spielen auf verstimmten Instrumenten stören sich die beiden Arten der musikalischen Vorstellungen. Diese kleine Unannehmlichkeit wird aber von allen Besitzern des absoluten Tonbewußtseins gern in Kauf genommen gegen die immensen Vorteile, die ihnen ihr absolutes Gehör bietet.

Ich halte es für keinen Zufall, daß nach meiner Enquete ausnahmslos alle mit absolutem Tonbewußtsein Begabten, deren Zahl jetzt auf 109 angewachsen ist, noch andere hervorragende musikalische Eigenschaften besitzen; sie alle phantasieren und komponieren, sodaß ich das absolute Tonbewußtsein als ein Symptom hoher musikalischer Begabung ansehen möchte. Da Herr Auerbach der entgegengesetzten Ansicht ist, müßte er zum Beweise ihrer Richtigkeit erst die Frage lösen, ob es ein absolutes Tonbewußtsein geben kann ohne sonstige musikalische Eigenschaften. Alle von mir befragten Versuchspersonen sind ja musikalisch vorgebildet. Eine große Anzahl musikalisch völlig ungebildeter Menschen-- vielleicht Schusterjungen, um Herrn Auerbach entgegenzukommen-- müßten unterrichtet werden in dem Wiedererkennen und Bezeichnen absoluter Tonhöhen. Diejenigen, welche nach einiger Zeit ein absolutes Tonbewußtsein erlangt haben-- meiner Ansicht nach wird es unter 1000 kaum einer sein-- müßten nun musikalisch instrumenteilen Unterricht erhalten. Und schließlich müßten die musikalischen Fortschritte dieser Individuen verglichen werden mit den Fortschritten einer gleichen Anzahl von Menschen, die nur ein Intervallbewußtsein und kein absolutes Tonbewußtein erzielt haben.-- Dies dürfte eine recht zeitraubende und kostspielige Untersuchung werden, die der Mühe wahrlich nicht lohnte.

Viel wichtiger als ein allgemeines Werturteil schien mir die Untersuchung, welchen Wert das absolute Tonbewußtsein für die einzelnen musikalischen Erfordernisse hat, und da muß ich bei meiner in der ersten Abhandlung geschilderten Ansicht beharren, daß das absolute Tonbewußtsein äußerst wichtig, ja unentbehrlich ist für die unbedingte Treffsicherheit beim Gesang selbst der kompliziertesten Tonfolgen (natürlich abgesehen von transponierter Musik) und der sicheren Erkenntnis der Modulationsrichtung beim Hören schwieriger Tonwerke. Was hätte eigentlich das musikalische Gesetz, daß Anfangs- und Schlußtonart eines Tonwerkes identisch sein sollen, für einen Sinn, wenn man nicht der absoluten Tonhöhe einen größeren Wert beimäße! Bei einfacher Modulationsrichtung kann man wohl auch ohne absolutes Tonbewußtsein nur durch Intervallvergleichung die Modulation richtig verfolgen, muß aber dabei eine derartige Arbeit leisten, daß über diesem wissenschaftlichen Urteil jeder Genuß der Musik verloren geht. Bei den schwierigen harmonischen Tonfolgen unserer modernen Musik ist man ohne absolutes Tonbewußtsein schon nach wenigen Akkorden nicht mehr im stande, zu erkennen, ob und wieviel man sich von der Haupttonart entfernt hat, selbst wenn man die Anfangstonart weiß. Auch für den Komponisten, der nicht am Klavier komponiert, der aber auf das Charakteristische der Tonart Wert legt, ist das absolute Tonbewußtsein unentbehrlich.

Jedenfalls zeigt sich, daß das absolute Tonbewußtsein auf die wichtigsten musikalischen Eigenschaften, auf Gedächtnis, Reproduktion und Produktion, einen Einfluß ausübt, und daher hielt ich mich für berechtigt, diese Kategorie von Musikern als einen besonderen musikalischen Typus hinzustellen.

Über diese Probleme wie über den Wert der Typenpsychologie überhaupt kann man natürlich verschiedene Meinung haben, aber man wird Gründe für seine Meinung anführen müssen, jedenfalls sind die Dinge viel zu schwierig, als daß man sie von oben herab mit einem satirischen Bilde abtun könnte.


[1] Jahrg. VIII Heft 1.

[2] Sammelbd. d. IMG. III, 1.

[3] S. Stumpf, Tonpsychologie Bd. I § 1.