Das absolute Tonbewußtsein und die Musik.

Originally published in Sammelbände des Internationalen Musikgesellschaft, Volume 8, pages 105-12, 1906

Felix von Auerbach, Jena.

Die folgenden kurzen Bemerkungen über das sogenannte absolute Tonbewußtsein kommen insofern stark verspätet, als sie sich gegen eine schon vor vier Jahren (Sammelbände III, 1) erschienene Abhandlung von Otto Abraham wenden, die mir erst jetzt, nachdem die hiesige Universitätsbibliothek auf mein Betreiben Mitglied der IMG. geworden ist, zu Gesichte kam. Inzwischen hat dieser Aufsatz zwar, wie ich vermute und auch erfahren habe, lebhaften inneren Widerspruch hervorgerufen, zu einer öffentlichen Formulierung scheint es aber nicht gekommen zu sein (ebensowenig freilich auch zu einer Weiterarbeit auf dem angegebenen Wege). Dies nachzuholen ist der Zweck der vorliegenden Zeilen. Sie sind sehr kurz gehalten, teils um die Hauptsache nicht durch Einzelheiten zu belasten und den Protest deutlicher hervortreten zu lassen, teils, weil meine augenblicklichen Studien, die auf einem ganz andern Gebiete liegen, eine Unterbrechung nicht zulassen; vielleicht kann ich später auf die Sonderprobleme einmal näher eingehen.

Wenn übrigens oben von der Abraham'schen Abhandlung schlechthin die Rede war, so muß das jetzt dahin eingeschränkt werden, daß es sich zunächst nur um das letzte Kapitel dieses Aufsatzes handelt. Die Untersuchungen des Herrn Abraham über das absolute Tonbewußtsein an sich gehören ganz gewiß zu den wertvollsten, die auf diesem Gebiete bisher angestellt worden sind; und daran ändert sich auch nichts durch den Umstand, daß man in manchen Punkten und sogar in der Hauptsache anderer Meinung sein kann wie der Autor. Hier aber soll es sich nur um die Nutzanwendung auf die Musik handeln, und da kann man-- hiervon bin ich, und mit mir gewiß viele Andere, fest durchdrungen-- nicht scharf genug opponieren. Da es sich hier um persönliche Gefühlskreise und Ansichten handelt, liegt die Gefahr vor abzuschweifen, und auch Herr Abraham streift einmal in nicht mißzuverstehender Weise das Gebiet der persönlichen, sachfremden Motive. Da es nun anderseits unerläßlich ist, das im folgenden zu sagende klar und ohne Umschweife auszudrücken, so will ich noch ausdrücklich bemerken, daß es sich mir ausschließlich um die Sache handelt, und daß ich deshalb sowohl Herrn Abraham selbst wie die andern Leser bitte, die Personen derer, die als »Versuchskaninchen« den fraglichen Feststellungen zugrundeliegen, außer acht zu lassen.

1.

Alles in der Welt ist relativ. Dieser Ausspruch ist ohne nähere Erläuterung gewiß nicht viel mehr als eine Phrase. Es ist aber, wenigstens soweit es hier erforderlich ist, nicht schwer, das, was damit gesagt sein soll, zu präzisieren, und zwar am einfachsten ex contrario, also indem wir das Absolute definieren. Unter absoluten Größen versteht man in den exakten Wissenschaften bedauerlicherweise zweierlei und hält es nicht immer mit der wünschenwerten Schärfe auseinander. Einmal absolut gemessene, d. h. in absoluten Einheiten ausgedrückte Verhältniszahlen, die uns hier nichts angehen; und sodann eigentlich absolute, d, h. auf einer Skala mit einem Nullpunkte verzeichnete Größen, wie die Höhe über dem Meeresspiegel, die Temperatur und manches andere. In diese letztere Kategorie gehört offenbar die absolute Tonhöhe, sie steht hiermit in denkbar schärfstem Gegensatze zu dem Begriffe des Tonverhältnisses oder Intervalles, als einer durchaus relativen Größe.

Nun ist der Mensch bekanntlich mit einem außerordentlich feinen Sinn für das Relative ausgerüstet, auf dem einen Gebiete mit einem noch feineren als auf dem andern, auf allen aber mit einem Sinn von bewundernswürdiger Empfindlichkeit. Ob zwei Linien einander parallel sind oder nicht, welche von zwei Flächen dem Tastsinn rauher erscheint, ob eine Straße, auf der man sich bewegt, eben läuft oder ansteigt, dafür hat der Mensch-- für das letztgenannte sogar auch Pferd und Esel-- eine äußerste Feinfühligkeit. Am schärfsten ausgebildet aber ist dieser Sinn beim Gehörorgan, und zwar in Bezug auf die Tonintervalle, d. h. die Verhältnisse der Schwingungszahlen bzw. Tonhöhen. Dabei macht es keinen besonders großen Unterschied, ob es sich um Gleichzeitigkeit oder zeitliche Auflösung handelt, solange das Tempo der letzteren so rasch ist, wie selbst bei den langsamsten musikalischen Tonfolgen. Auf diesen Verhältnissen also beruht, wie man bisher annahm und hoffentlich auch in Zukunft annehmen wird, das Wesen aller Tonkunst, mit ihren beiden Hauptfaktoren: Harmonie und Melodie.

Ganz anders steht es um das Absolute. Auf den meisten Gebieten verhält sich der Mensch ihm gegenüber völlig indifferent und ratlos. Tür die Richtung nach dem Nordpol, für die Richtung nach dem magnetischen Pole, für die Höhe über dem Meeresspiegel, für die absolute Temperatur haben wir keinerlei Empfindung; wir müssen, um diese auch nur annähernd zu bestimmen, nach dem Himmel schauen und aus der Tasche den Kompaß, das Barometer und das Thermometer hervorholen. Es vergeht freilich kaum ein Jahr, in dem wir nicht eine Broschüre zugeschickt erhalten, in der von einer solchen absoluten Begabung irgend eines Menschen erzählt wird-- meist in gänzlich laienhafter Form, zuweilen auch mit einem Anstrich von Wissenschaftlichkeit. Solchen Nachrichten gegenüber werden wir skeptisch sein, als vorsichtige Naturforscher aber die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, daß ein derartiges Bewußtsein des absoluten auf irgendeine uns noch geheimnisvolle Art zustande komme.

2.

Hierbei ist nun die folgende Erwägung, die sich aus zwei Gliedern zusammensetzt, von ganz allgemeiner Bedeutung. Denken wir uns einen unendlichen Raum und fragen wir, welches sein Mittelpunkt sei. Offenbar jeder beliebige Punkt, vorausgesetzt, daß wir uns immer nur einen einzigen Punkt vorstellen; man kann eben die Lage eines Punktes im allseitig unbegrenzten Raume nicht definieren. Denken wir uns jetzt einen begrenzten Raum oder, um die Sache einfacher zu gestalten, eine begrenzte gerade Linie, die aber sehr lang sein soll. Dann können wir einen Punkt auf ihr definieren durch seine Relation zu einem der Enden; und diese Festlegung wird, solange wir nicht mit exakten Hilfsmitteln operieren, für die mittleren Punkte sehr vag, für die gegen die Enden hin gelegenen Punkte aber schon wesentlich genauer sein. Man sieht: das Absolute wird zum Relativen, sobald das Gebiet, um das es sich handelt, Grenzen hat; und auf diese Grenzen findet alsdann der Bezug statt.

Zweites Glied unserer Betrachtung, an Wichtigkeit dem ersten wohl noch beträchtlich überlegen: Vorhin war angenommen, die gerade Linie sei mit einem vollkommenen Mechanismus, oder mit idealem Apparat an Lineal, Feder und Tusche hergestellt, sodaß sie überall ganz gleichartig ausgefallen ist. Jetzt aber wollen wir sie mit grober Kreide auf einer holperigen und aus verschiedenen Stücken zusammengeleimten Tafel zeichnen. Nunmehr können wir, ganz unabhängig von den Enden, einen Punkt auf der Linie fast immer genügend genau bezeichnen durch den Ausspruch, er liege rechts von einer kleinen Unterbrechung der Linie, oder da, wo sie etwas gebogen ist, oder etwas breiter oder dergleichen mehr. Man sieht: durch kleine Ungleichförmigkeiten innerhalb des Gebietes erhalten wir Anhaltspunkte, um das anscheinend Absolute als ein Relatives zu erfassen.

Zusammengefaßt: Das Absolute an sich ist uns unzugänglich. Wenn wir es nicht selten zu fassen vermögen, so liegt das an der Begrenztheit der Bereiche und an der qualitativen Abstufung ihres Innern, wozu dann noch mancherlei weniger offenliegende Anhaltspunkte hinzukommen.

3.

Unter den Fähigkeiten, die Menschen besitzen, kann man, da die Zwischenglieder beinahe fehlen, zwei Klassen deutlich unterscheiden: der einen Klasse gehören diejenigen an, über welche der Mensch normalerweise verfügt und deren Fehlen einen Defekt bedeutet; in diese Klasse gehört, wie der Farbensinn, der Zahlensinn und vieles andere, unzweifelhaft auch der Sinn für Tonintervalle; unter zehn Schusterjungen wird man vielleicht einen finden, dem er fehlt. In die andere Klasse gehören die Fähigkeiten, die der Mensch nur ausnahmsweise besitzt, und deren Besitz ihn zu einem besonderen Typus stempelt; dadahin gehört, um nur einige bunt zusammengewürfelte Beispiele zu nehmen, die spezifische Suggerierbarkeit, die zum Medium stempelt, das Blindlings-Schachspiel, für dessen Beobachtung wir gewöhnliche Sterbliche Eintrittsgeld entrichten, und das uns hier beschäftigende absolute Tonbewußtsein. Daß dieses letztere existiert, ist nicht zu bezweifeln. Der Frage aber, ob es etwas Ursprüngliches und Elementares sei, wird man dagegen nach dem oben angedeuteten sehr skeptisch gegenüberstehen und vielmehr geneigt sein, es als ein Produkt mehrerer Faktoren anzusehen, unter denen die Begrenztheit unserer Tonskala und die qualitative Ungleichförmigkeit ihrer Teile die Hauptrolle spielen werden. Auch zeigt eine nähere Prüfung, daß gerade hier die Grenze zwischen ja und nein gar nicht scharf ist und auch-- bei der Kleinheit des in Betracht kommenden Spielraumes-- gar nicht scharf sein kann. Was mich selbst z. B. betrifft, so habe ich zweifellos kein absolutes Tonbewußtsein, werde mich aber zu Zeiten, wo ich regelmäßig musiziere trotzdem nie um mehr als einen halben bis höchstens ganzen Ton irren, während anderseits auch der mit absolutem Gehör Begabte beim Viertelton schon aus äußeren Gründen fast immer seine Grenze findet. Aber diese Analyse soll hier nicht ausgeführt, vielmehr schlankweg zugegeben werden, daß es ein absolutes Tonbewußtsein gibt und daß es-- was sicherlich schon zu reichlich bemessen ist-- unter zehn Schusterjungen einer besitzt.

4.

Was hat das nun alles mit der Musik zu tun?

Von den drei Antworten, die man hierauf geben kann, lautet die erste kurz und bündig: gar nichts. Diese Antwort wäre in der Tat die einzig richtige, wenn der Tonbereich unbegrenzt und in seinem Verlaufe mit jener idealen, maschinell gezogenen Linie vergleichbar wäre. Aber mit der Musik verhält es sich, wie mit allem in Natur und Menschenleben: man muß die Dinge nehmen wie sie sind, mit allen ihren Unvollkommenheiten, mit ihrer Unausgeglichenheit, mit ihren Diskontinuitäten usw.; und daß sie so unvollkommen usw. sind, ist ja gerade ihre Vollkommenheit, darin liegt ihr sozusagen individueller Reiz. Das gilt, was den Tonbereich betrifft, von den Besonderheiten der Tonerzeugung ebenso wie von denen der Tonempfindung; dort wie hier wirken die verschiedensten Faktoren zusammen, um aus dem Ideal eine Wirklichkeit zu machen: die Mängel und kritischen Punkte musikalischer Instrumente, der nur bestimmter Spannungen fähige Kehlapparat, der zwar bewundernswürdig, aber nicht unbegrenzt anpassungsfähige Mundresonator mit singulären Stellen und kritischen Übergängen, eine Tastatur, die aus Obertasten und Untertasten besteht; und anderseits ein spezifischer Hörapparat mit ganz bestimmtem Trommelfell, bestimmten Knöchelchen und einem besonderen System von Fäserchen; im Zentralorgan endlich eine Verwertung dieses Materials und eine Assoziationenbildung, die, so unbekannt sie uns auch in den meisten Hinsichten sein mag, doch jedenfalls sich dem ganzen Bereiche gegenüber sicherlich nicht gleichförmig und wahrscheinlich auch nicht stetig verhält. Da gibt es also eine so große Zahl von Brücken zum Reiche des vermeintlich Absoluten hinüber, daß man statt der ersten lieber die folgende zweite Antwort geben wird: Die absolute Tonhöhe und der Sinn für sie kann unter Umständen eine gewisse Rolle in der Musik, der produktiven wie der rezeptiven, spielen. Von besonderer Bedeutung, so wird man hinzufügen, kann dieses Element nicht sein, einerseits nach außen nicht, weil für starke Verlegungen des Niveaus der Tonbereich zu wenig Raum bietet und anderseits nach innen nicht, weil die absolute Tonhöhe gar nicht so genau festgelegt war und ist; sind doch die meisten Tonstücke des 17. und 18., zum Teil auch noch des 19. Jahrhunderts gar nicht für die Tonhöhe geschrieben worden, in der sie jetzt, nach wiederholter Festlegung des Kammertons, ausgeführt werden. Mit kurzen Worten: die Rolle des Absoluten in der Musik ist entweder selbstverständlich, insofern ein heller Sopran nicht so geschmacklos sein darf, das Lied »Im kühlen Keller« zu singen (ebensowenig wie sich Jemand den Moses von Michelangelo als Miniatur ins Zimmer stellen wird); oder sie ist haltlos, insoweit es sich um Festlegung bis auf einen halben Ton handelt, der weder historisch noch psychisch definiert ist, sondern durch Geschmack, Stimmung, körperliche Disposition und manches andere variiert wird.

Und nun die dritte Antwort, die Herr Abraham auf unsere Frage gibt, wonach Intervallsinn und absoluter Tonsinn koordinierte Sollen in der Musk spielen, wonach es zwei Typen von Musik-- produktiver und rezeptiver-- geben soll; eine, deren Grundlage das Intervallbewußtsein, eine andere, deren Grundlage das absolute Tonbewußtsein sein soll, jede von beiden mit besonderen Eigentümlichkeiten, die man nunmehr eifrigst zu studieren und zu analysieren haben wird! Difficile est satiram non scribere. Und so sei sie denn geschrieben!

5.

Stellen wir uns vor, es gebe Menschen mit einem ausgebildeten Sinn für die Höhe über dem Meeresspiegel, mit »absolutem Seehöhen-Bewußtsein«, wie wir es nennen wollen; es ist zwar unwahrscheinlich; aber im Hinblick auf die mit der Seehöhe verknüpften Umstände (Luftdruck usw.) durchaus nicht undenkbar, daß es solche Menschen gibt. Unser »Medium«, sei in seinem bürgerlichen Beruf Architekt-- ich wähle gerade diesen, weil bekanntlich Architektur gefrorene Musik ist, zur Formulierung des satirischen Gleichnisses sich also am besten eignet. Diesem Architekten gebe ich den Auftrag, mir eine Villa zu bauen, mit dem Hinzufügen, ich hätte die Absicht mich in München niederzulassen. Er schickt mir seinen Plan: der Keller ist mit 520, das Erdgeschoß mit 523, das Obergeschoß mit 527 usw. bezeichnet, alles in Metern; der Mann rechnet eben nicht nach Höhenintervallen, sondern nach Seehöhen, weil er allein für diese ein unmittelbares Bewußtsein hat. Ich denke mir mein Teil dabei, sehe aber schließlich nicht ein, was mich das angeht, wenn nur der Plan an sich gut ist, und das ist er. Inzwischen habe ich mich entschlossen, mich doch lieber in Dresden niederzulassen, und ich ersuche meinen Architekten, schleunigst mit dem Bau zu beginnen. Da bekomme ich die Antwort: das könnte er nicht, er müsse erst einen ganz neuen Plan machen, denn Dresden hätte eine viel kleinere Seehöhe: wenn er nach dem alten Plane bauen wollte, würde er sich fortwährend irren und schließlich vor lauter Nervosität gänzlich scheitern. Die meisten Architekten könnten ja einen Plan ohne weiteres auf ein anderes »Niveau« transponieren, er gehöre aber zu dem andern Typus.

Nun frage ich: Wundert sich irgend jemand, wenn mir unheimlich vor dem Manne wird, und wenn ich mich-- von den Kosten des doppelten Planes ganz abgesehen, lieber an einen andern Künstler wende, der zum andern »Typus« gehört, dessen Intervallsinn nicht gestört wird durch ein absolutes Höhenbewußtsein?

6.

Nutzanwendung auf die Musik: Wer absolutes Tonbewußtsein hat, mag sich dessen erfreuen und es je nach Neigung und Beruf ausnützen: der Gelehrte zu wissenschaftlichen Experimenten, der Musiker zur bequemen Koordination von Zeichen und Tönen, zur Ersparung des Stimmpfeifchens usw., der Vorsteher eines großen Rangierbahnhofs, um an ihrem Pfiff jede einzelne Lokomotive zu erkennen.-- Der Musiker mag seine Fähigkeit, wenn er sie nicht unterwegs ablegen kann, meinethalben auch ins Musikzimmer mit hineinnehmen; aber unter der Bedingung, daß sie ihre kleinen Dienste, an die er sich gewöhnt hat, im stillen leiste und nicht störend in das Hauptgetriebe eingreife. Wenn er dagegen ein Lied, weil es ihm in Transposition begleitet wird oder weil ihm transponierte Noten vorgelegt werden, falsch oder auch nur unsicher singt, selbst wenn ihm der erste Ton richtig angegeben worden ist; oder wenn er auf einem anders gestimmten Instrumente, sei es Orgel oder Flügel, an einem ihm bekannten Musikstücke scheitert, so ist er-- man muß es ohne Umschweife sagen-- eminent unmusikalisch, und sei sein absolutes Tonbewußtsein auch so fein, daß er sich vor einer internationalen Psychologenversammlung mit erstaunlichem Erfolge produzieren könnte. Die vollständige Definition des Begriffes »musikalisch« ist, wie Herr Abraham richtig bemerkt, außerordentlich schwierig; und ich habe das erst kürzlich wieder bei Gelegenheit von Vorträgen über die wissenschaftlichen Grundlagen der Musik, die ich im vergangenen Winter gehalten habe, konstatieren können; hier kommt es aber gar nicht auf die Vollständigkeit der Definition, sondern nur darauf an, daß der oben charakterisierte Musiker, mag er auch in Bezug auf alle andern Faktoren des musikalischen sehr hohe Nummern haben, trotzdem wegen dieses einzigen Mankos das Prädikat nicht bekommen darf. Der Intervallsinn ist eben die conditio sine qua non; und ein Intervallsinn, der sich durch das Sandkörnlein der Transposition aus dem Geleise bringen läßt, ist überhaupt keiner.

Die Werke der Tonkunst sind von einer aus zahllosen Faktoren zusammengesetzten Mannigfaltigkeit; von einer Mannigfaltigkeit, deren Studium einen ebenso hohen ästhetischen Genuß bereitet, wie sie es anderseits gewaltig erschwert, Typen herauszuschälen und in ein System zu bringen. Zu diesen Mannigfaltigkeiten soll nun noch ein Gegensatz des absoluten und des relativen Kompositionstypus hinzukommen, womit dann sowohl der Genuß wie die Schwiergkeit des Systems noch erhöht werden würde. In der mir zugänglichen Zeitschriften- und Bücherliteratur habe ich Beiträge zu dem von Herrn Abraham angeregten Problem nicht finden können, obgleich seitdem schon vier Jahre vergangen sind. Ich glaube auch nicht, daß derjenige, welcher sich der Herausarbeitung des absoluten und des relativen Typus und dem Studium ihrer Einordnung in die andern Kategorien widmet, auf die Kosten kommen wird; er wird sehr bald einsehen, daß er nahe Verwandtes trennen, völlig Verschiedenes nebeneinander stellen muß, ohne dabei ein neues spezifisch musikalisches Erkenntnisergebnis zu erzielen. Und dann wird er wohl zu der Einsicht kommen, was er betreibt: die Jagd nach einem Phantom.