Originally published in Psychotechnische Zeitschrift, Volume 3, pages 108-11, 1928
Von C. Maltzew.
Die Frage nach dem Verhältnis von absolutem Tonbewußtsein und Musikalität ist vielfach umstritten worden, In weiteren pädagogischen Kreisen-- wie auch bei ausübenden Musikern-- gilt das absolute Tonbewußtsein als seines der charakteristischen Merkmale musikalischer Begabung.
Nähere Beobachtungen aber stellten die Bedeutung dieser Fähigkeit für die
Musikalität unter Zweifel.
Es ergab sich ferner-- den psychologischen Untersuchungen von v. Kries [1] und Abraham [2] gemäß-- daß die Fähigkeit, die unter dem Namen »absolutes Tonbewußtsein« benannt ist, keine unbedingt »absolute« ist, daß sie vielmehr von der Klangfarbe große Abhängigkeit zeigt und zweierlei Vermögen in sich birgt: 1. Erkennen und Benennen der vorgeführten Töne; 2. Produzieren der nur genannten Töne.
Ferner hat G. Révész [3] darauf hingewiesen, es sei verfehlt anzunehmen, daß es »Individuen gibt, die ein absolutes Gehör haben und andere, die eines solchen entbehren«. Das absolute Gehör kann sehr verschieden entwickelt sein. Er unterscheidet je nach den 2 von ihm festgestellten Elementen der Tonempfindungen, 2 Arten von absolutem Tonbewußtsein: die Tonqualitäten- und die Tonhöhen- bzw. Helligkeitenerkennung. Die erstere Fähigkeit scheint nach Révész angeboren zu sein, die zweite »muß erst erworben werden. Sie ist eine allgemeine, jedoch bei verschiedenen Menschen verschieden entwickelte Eigenschaft.«
W. Köhler [4] behauptet, »daß es außer Tonhöhen auch Tonkörper gibt« und »daß vielmehr Tonkörper es sind«, die einmal (bei gewohnten Instrumenten) leicht erkannt werden, ein anderes Mal fremd bleiben. W. Köhler machte an sich den Versuch, ein absolutes Tonbewußtsein zu erwerben, der zu einem positiven Ergebnis führte.
Die Untersuchung schließlich, die vom Verfasser im Staatsinstitut für Musikwissenschaft Moskau durchgeführt worden ist [5], ging auf die Analyse des Prozesses der Erwerbung des absoluten Tonbewußtseins. Es ergab sich, daß der Anlernungsprozeß verschiedene Phasen unterscheiden läßt:
a) Die erste Phase besteht in einer progressiven Oriontiertheit in betreff der Helligkeiten, was durch eine Verminderung der fehlerhaften Urteile, hauptsächlich aber durch allmähliche Häufung der letzteren um eine ideale Kurve (der richtigen Urteile) charakterisiert wird.
b) In der zweiten Phase erhalten die Töne (bzw. Tonkörper) eine gewisse individuelle Charakteristik, und zwar werden einmal Töne ähnlichen Klangkörpers miteinander verwechselt (vgl. Köhlers Quarten und Quintenfehler), ferner aber Töne, welche eine gleichartige Funktion innerhalb eines gegebenen Tonkomplexes (Lad) ausüben; so z. B,in C-Dur h und d als unstabile, c und e als stabile Klänge usw [6]. Die Resultate der Versuche sind gleichfalls positiv, obwohl große Schwankungen hinsichtlich der Erlernungsfrist bei verschiedenen Vpn. zu verzeichnen sind.
Einige Versuchsreihen aus der eben erwähnten Arbeit, und zwar diejenigen, die an Kindern der Probeschule des Moskauer Konservatoriums durchgeführt worden sind, ließen sich in erweiterter Form zu Zwecken der vorliegenden Arbeit über die Musikalität und ihre Elemente verwenden.
Das sind Versuche über die Bestimmung des absoluten Tonbewußtseins für Helligkeiten nach der Methode von G. Révész [7].
Die Versuchsanordnung blieb ohne Änderung. Den Kindern wurden, nachdem ihnen die Helligkeitsunterschiede der verschiedenen Register klargemacht, acht Töne aus verschiedenen Regionen (G, F, e, dis1, f1, d2, c3, a3) vorgeführt und die Aufgabe gestellt, dieselben am Klavier anzugeben. Die Resultate der Versuche sind etwas schlechter ausgefallen als bei Révész, was vielleicht auf eine mangelhafte Kenntnis des Instruments zurückzuführen ist. Es kommt aber in der gegenwärtigen Untersuchung nicht auf die absoluten Zahlenwerte, sondern nur auf ihre Verhältnisse an. Eins aber ist es notwendig zu erwähnen: daß die Bearbeitung der Resultate der drei Darbietungen eines jeden Tones (in Fällen, wo bei der ersten und zweiten Darbietung die Antwort falsch ausfiel) anders gemacht worden ist, als es bei Révész geschehen, und zwar wurden die Resultate der drei Darbietungen einzeln bearbeitet und für unsere Zwecke nur die der ersten Darbietung in Betracht gezogen. Denn es ist zu vermuten, daß bei der zweiten und dritten Darbietung das relative Gehör in großem Maße ins Spiel tritt, da die Kinder durch die ersten falschen Griffe einen Orientierungspunkt gewonnen, von dem aus sie zum richtigen Ton gelangten.
Die Versuche wurden an 33 Kindern durchgeführt und die Rangordnung der Kinder folgendermaßen hergestellt: An die Spitze der Reihe kamen diejenigen Kinder, die bei der ersten Darbietung die größten Zahlen richtiger Fälle aufgewiesen hatten; bei gleicher Anzahl derselben wurden die falschen Urteile in Rechnung gezogen und dasjenige Kind bevorzugt, welches einen Ton angab, der seiner Helligkeit nach dem gegebenen Ton am nächsten stand, sich also um eine kleine Sekunde, große Sekunde, kleine Terz usw. von dem richtigen Ton unterschied. Die auf diese Weise gewonnenen Reihen wurden mit denen von K. Starkow aufgestellten (allg. mus. Begabung, Leistung und Begabung zu einzelnen musikalischen Fächern) sowie mit der Reihe nach der Schulbegabung (von Hrabar-Passek für dieselben Kinder hergestellt) in Beziehung gesetzt.
Die Berechnung des Abhängigkeitskoeffizienton ergab die folgenden Verhältnisse:
Absolutes Gehör und Musikalität = 0,06
Absolutes Gehör und Musikleistung = 0,06
Absolutes Gehör und allg. Schulbegabung = 0,30
Also steht das absolute Gehör für Helligkeiten weder mit Musikalität noch mit Musikleistung in Beziehung. Ein negatives Verhältnis läßt sich auch in betreff der allgemeinen Schulleistung verzeichnen. Was die einzelnen musikalischen Fächer betrifft,so steht die Sache nicht viel anders.
Das Verhältnis
Absol. Gehör und Begabung in Rhythmik = -0,12
Absolutes Gehör und im musikal. ABC = 0,00
Absolutes Gehör und im Musikhören = 0,06
Das Verhältnis
Absolutes Gehör und Leistung in Rhythmik = -0,12
Absolutes Gehör und im musikal. ABC = -0,12
Absolutes Gehör und im Musikhören = 0,06
Es fällt zunächst auf, daß die Verhältnisse ganz anders sind als bei G. Révész, der einen Korrelationskoeffizient
Absolutes Gehör und Musikalität = 0,68
festgestellt hat.
Das veranlaßte den Verfasser der gegenwärtigen Arbeit, die Resultate seiner Versuche noch einmal zu bearbeiten, und zwar nach dem Révészschen Verfahren, laut dem alle drei Darbietungen in Betracht gezogen werden.
Es ergaben sich folgende Verhältnisse:
Absolutes Gehör und Musikalität = 0,59
Absolutes Gehör und musikal. Leistung = 0,84
Absolutes Gehör und Schulbegabung = 0,51
Die Zahlentafel zeigt, daß die Abhängigkeitskoeffizienten bei dieser Berechnungsweise denen von Révész nahekommen.
Ziehen wir in Betracht, daß das von Révész gewonnene [Verhältnis (Relatives Gehör / Musikalität ) = 0,61] ist, so bringt das wiederum die schon ausgesprochene Vermutung nahe, daß das relative Gehör bei der zweiten und dritten Darbietung von Bedeutung ist.
In den von K. Starkow mitgeteilten Resultaten finden wir auch einen ziemlich hohen Abhängigkeitskoeffizient zwischen dem musikalischen ABC, das ein gutes relatives Gehör erfordert, und der Musikalität.
So bleiben wir bei der ersten Bearbeitung der Resultate und glauben mit der Behauptung nicht fehlzuschlagen, daß das absolute Tonbewußtsein für Helligkeiten ursprünglich in keinerlei Verhältnis zur Musikalität steht.
Die eben erwähnten Versuche sind zu gering an Zahl, um ein sicheres Urteil über das Verhältnis des absoluten Tonbewußtseins zur Musikalität zu fällen. Es sind andere Versuche erforderlich, und zwar nach anderen-- für Ungeübte leichteren Methoden.
Dieses Resultat der Versuche ist aber in einer Hinsicht nicht ganz unerwartet. Révész behauptet nämlich, wie oben schon erörtert, daß das absolute Tonbewußtsein für Helligkeiten eine allgemeine Eigenschaft sei; damit ist schon eigentlich die Grenze zwischen »musikalisch« und »unmusikalisch.« verwischt, und es ist zu erwarten, daß im Anfangs-stadium, vor Beginn einer jeden Übung eine positive Korrelation fehlen sollte. Das läßt sich an einem Beispiele erörtern: Es wurden die vom Institut ausgearbeiteten Tests zur Prüfung des absoluten Tonbewußtseins an 21 anderen Kindern im Alter von 10 bis 14 Jahren durchgeführt (siehe in der Arbeit von M. Serejski und C. Maltzew die Tests II, 1a & 1b und II, 2a). Der Test, wo die Qualität des gegebenen Tones erkannt werden sollte, ergab in seinen 2 Varianten 15+ und 27-; der Test mit dem Erkennen von Helligkeiten ergab 40+ und 2-. Also wurde die betreffende Helligkeit von beinahe allen Kindern erkannt. Die 21 Kinder, die die 42 Urteile abgelegt, lassen sich also in keine Rangreihe einfügen, da sie alle die Aufgabe gleich gut gelöst haben. Demgemäß kann von einer Korrelation mit der Musikalität nicht die Rede sein.
Vielleicht wird die Sache anders, wenn die Übung einsetzt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Erlernungsprozeß bei uns musikalisch Veranlagten schneller verläuft, so daß eine zweite Prüfung-- nach einer bestimmten Frist-- ganz andere Resultate ergeben hätte.
Die Versuche, die vom Verfasser an Erwachsenen durchgeführt worden sind, legen diesen letzten Gedanken nahe.
Und noch eine Überlegung sei hier ausgesprochen: es ist äußerst schwer, durch ein paar spezielle Tests das Wesentliche der Erscheinungen zu fassen. Im musikalischen Treiben kommen gesonderte Fälle selten vor. Sobald aber ein musikalisches Ganzes vorliegt, kommt eine Reihe neuer Anhaltspunkte zur Bestimmung der absoluten Tonhöhe hinzu: die Tonartfärbung, der Tonkomplex, der die Funktion einzelner Töne bestimmt usw. Das letztere wurde oben von mir an Beispielen erörtert; das erstere ist aus der musikalischen Praxis geläufig, denn es kommt nicht selten vor, daß Musiker Tonarten erkennen ohne einzelne Töne ihrer Höhe nach bestimmen zu können. Das eben Gesagte diene zur Orientierung und zur Aufstellung neuer Probleme.
[1] v. Kries, Zeitschrift f. Psychologie, Bd. 3.
[2] O. Abraham, Das absolute Tonbewußtsein. Sammelbände d. Intern. Musikges. 3. 1901.
[3] G. Révész, Zur Grundlegung der Tonpsychologie, Leipzig 1913, S. 90 ff.
[4] W. Köhler, Akustische Untersuchungen III. Ztschr. f. Psych. Bd. 72, S. 165.
[5] C. Maltzew, Absolutes Tonbewußtsein und die Methoden seiner Entwicklung. Moskau 1925 (Russ, Sbornik Gimu, Nr. 1.)
[6] Es seien einige Beispiele angeführt: Vp. K.: »Es kann h oder d sein, nicht aber c.« Vp. B.: »h und d sind einander ähnlich; sie klingen unruhig, aufregend; c ist entschieden, resolut.«
[7] G. Révész, Prüfung der Musikalität. Ztschr. f. Psych. Bd. 85, 1920. S. 179.