Tonhöhenbewußtsein und Intervallurteil.

Originally published in Zeitschrift Internationalen Musikgesellschaft, 13, 267-72.

Hugo Reimann, Liepzig.

Am 13. Jan. 1912 hat Prof. G. E. Müller in der math.-phys. Klasse der Göttinger Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften eine Abhandlung von Géza Révész, Dozent, an der Universität zu Budapest, vorgelegt, die nun im Druck vorliegt: »Nachweis, daß in der sogenannten Tonhöhe zwei voneinander unabhängige Eigenschaften zu unterscheiden sind«. In der Voraussicht, daß diese übrigens nur 6 Oktavseiten füllende Abhandlung die ohnehin schon in vielen neueren tonpsychologischen Arbeiten herrschende Verniengung von Begriffen der exakten Wissenschaft mit solchen des Gebietes der musikalischen Vorstellung weiter steigern könnte, möchte ich hier in aller Kürze klarlegen, daß Révész's »Nachweis« nur eine blendende Bluette, aber keineswegs eine Entdeckung von irgendwelcher Bedeutung vorstellt. Die von Révész aufgestellte zweite, neben der »absoluten Tonhöhe« unterschiedene Eigenschaft des einzelnen Tones, die von ihm so benannte »musikalische Qualität« soll nämlich, wie sich weiterhin herausstellt, die bestimmte Qualifikation eines Tones als Bestandteil unseres Musiksystems sein, z. B. als gis oder als c usw. und zwar sogleich in dem Sinne der Erweiterung des Tonbegriffs durch Hineinbeziehung der Oktaven, wie ich sie bereits 1877 in meiner »Musikalischen Syntaxis« aufgestellt habe und wie sie K. Stumpf 1898 in »Konsonanz und Dissonanz« unter dem Namen »Erweiterungsbegriff« adoptiert hat. Révész kommt zu dem Schluß, daß es zweierlei Arten des absoluten Gehörs gebe (S. 5 , die »Tonhönen-erkennung« und die »Tonqualitätenerkennung«. Er definiert: »wer Tonhöhen« erkennen kann, bestimmt die Töne nur ungefähr nach längerer Überlegung, mit geringer subjektiver Sicherheit; er verhält sich beim Urteilen eher aktiv, was sich im Suchen, Probieren, Kontrollieren äußert. Die Töne haben für ihn keinen individuellen Charakter; seine Fähigkeit ist erworben, durch Musikmachen und bewußtes Üben entwickelt« und: »wer Tonqualitäten erkennen kann, gibt sein Urteil genau, rasch, subjektiv sicher ab; die Namen der Töne kommen ihm unmittelbar, er erlebt dabei nichts Besonderes, verhält sich sozusagen psychisch passiv. Die Töne erscheinen ihm als Individualitäten. Seine Fähigkeit hat nicht eine eingehende Beschäftigung mit den Klängen der Musik zur Voraussetzung«: endlich: »das qualitative absolute Ohr kommt nicht ohne die Fähigkeit der Tonhöhenerkennung vor; dagegen findet sich bei vielen Menschen die Tonhöhenerkennung allein Machen wir bei dieser Unterscheidung zunächst Halt, so hat sich der Verfasser durch die Unverfrorenheit düpieren lassen, mit der ein musikbegabter Dilettant oder auch ein Fachmusiker, der mit absolutem Ohr auf die Welt gekommen ist, jeden beliebig angegebenen Ton sofort als gis oder as usw. benamst, während derjenige, der durch das fortgesetzte Einstimmen des Instruments auf die Normaltonhöhe sich mühsam und allmählich den Sinn für die absolute Tonhöhe erworben hat, zögernd und vorsichtig sein Urteil abgibt. Derartige Urteile der ersteren Art würden eine große Beweiskraft haben, wenn z. B. das angeborene absolute Ohr bestimmt gis und as voneinander unterschiede; das ist aber bekanntlich nicht der Fall. Der durch lange Übung in Besitz des absoluten Ohrs gelangte Musiker wird nicht einen Augenblick im Zweifel sein, wenn er von einem ersten bereits qualifizierten Tone aus einen zweiten bestimmen soll, wenn auch nicht mit bestimmter Unterscheidung etwa eines c-fis von c-ges. Bekanntlich nennt man diese Fähigkeit, Intervalle zu bestimmen, das relative Ohr; sie ist nicht wie das absolute Ohr ein seltenes Geschenk der Natur, sondern allgemein verbreitet und z. E. die unerläßliche Vorbedingung für alles Singen. Wer nicht das Intervallurteil hat, ist außerstande, die einfachste Melodie korrekt zu singen. Doch bedarf es dafür nicht einmal der Notenkenntnis und der Vertrautheit mit den Namen der Töne. Der »absolute* Hörer Révész's, der ohne Besinnen jeden Ton sicher benennt, muß aber doch auch erst einmal gelernt haben, wie man das Ding, das ihm so individuell bestimmt erkennbar ist, nennt. Oder glaubt Révész, daß auch die Kenntnis der Tonnamen angeboren sein kann? Das relative Ohr, d. h. das Vorstellen der Tonbeziehungen, unterscheidet aber bestimmt zwischen Tönen, die unsere temperierte Stimmung identifiziert.  Für den Sänger ist es sehr zweierlei, ob er c'-b oder c'-ais singen soll; die ganze Frage der »reinen Stimmung« wäre ja gegenstandslos, wenn nicht beide ganz verschiedene Vorstellungswerte wären, die streng genommen auch verschiedene Intonationen erfordern. Niemand ist fähig, temperierte Werte vorzustellen. Leider hat Révész gar keine Andeutung gegeben, wie viele solcher »Qualitäten« der Töne er annimmt, ob der phänomenal sicher die »Qualität« bestimmende geborene »absolute Hörer« sich auf die zwölf Halbtoiie unserer Klaviere (und zwar nach dem heute herrschenden Kammertone!) beschränkt oder ob er auch Komma-Unterschiede macht, ob für ihn das e als Terz von c ein anderer Ton ist als die vierte Quint, usw. usw. Aber nicht nur durch den geborenen absoluten Hörer hat sich Révész düpieren lassen; viel bedenklicher ist, daß er aus den Tonurteilen von Leuten, deren Gehör durch krankhafte Störungen der normalen Funktionen gelitten hat (Parakuse), Schlüsse gemacht hat, welche die von ihm behauptete Unabhängigkeit der »Qualität« des Tones von seiner absoluten Höhe erweisen sollen. Dieser Teil seiner Abhandlung ist zwar sachlich der interessanteste (er knüpft damit an Mitteilungen v. Liebermann's in der Zeitschrift für Psychologie, Bd. 48, S. 259 ff., 1908 an), aber ich verstehe nicht, wie er diesen Urteilen Gehörkranker grundlegende Bedeutung beimessen kann, obgleich er doch selbst (S. 5) sagt, daß bei ihnen »das psychische Verhalten beim Urteilen gänzlich anders ist als unter normalen Verhältnissen«. Wenn ■/,. B. zwei (gis-Töne (!) mit der Höhendistanz einer Septime (nämlich auf einem kunstgestimmten Instrument und nach dem Urteil eines gesunden Hörers) für einen an Parakuse leidenden »eine Oktave bilden, den genauen Eindruck einer Oktave machen«, so beweist das doch nicht, daß das Tonhöhenurteil dieses kranken Hörers noch in Ordnung ist, sondern im Gegenteil, daß es nicht mehr in Ordnung ist. Ich kann durchaus bestätigen, daß bei Parakuse die Übermittlung der nacheinander angegebenen oder auch gleichzeitig angegebenen Töne eines wohlgestimmten Instruments an die letzte Instanz der Apperzeption eine so mangelhafte sein kann, daß die stärksten Widersprüche zwischen den objektiv gebotenen und den schließlich gehörten Verhältnissen sich herausstellen. Aber daraus kann doch nur auf Einschrumpfungen (oder auch unter Umständen auf Erweiterungen?) und teilweises Vikarieren von Teilen der die Schallbewegungen aufnehmenden und sie in andersartige, bis heute nicht definierbare Nervenfunktionen umsetzenden Apparate im Ohr geschlossen werden, nicht aber auf eine »Fälschung der Qualität des Tones bei intakt gebliebener Erkennung seiner Höhe«. Es steht aber in Révész's Abhandlung auch sonst einiges Seltsame. das des Verfassers Kompetenz in Frage stellt, so S. 4 die Behauptung, daß die tiefsten und höchsten noch wahrnehmbaren Tone »der Qualität nach« nicht zu bestimmen seien. Dem widerspreche ich ganz entschieden. Daß es freilich schwer ist, sehr tiefe Töne genau einzustimmen, ist bekannt, hat aber ganz andere Ursachen (bei den tiefsten Klaviersaiten kann unzweckmäßige Stärke der Überspinnung das reine Einstimmen nahezu unmöglich machen; ähnliche Schwierigkeiten mögen hei einer Monstre-32 Orgelpfeife durch die Dimensionen entstehen; aber kein Musiker wird zugeben, daß für solche tiefe Töne die Konstatierung des Oktavverhältnisses zu höheren nicht mehr möglich sei. Ähnlich verursacht natürlich der sehr kurze Ton allerhöchster Töne für die Beurteilung eine gewisse Schwierigkeit, aber ich erinnere mich, im Leipziger physikalischen Kabinett au dem König'schen Apparate seinerzeit bestimmt erkannt zu haben, daß die letzten Stahlblöcke statt der angeblichen Oktave eine None Abstand hatten.

Was soll das aber heißen, wenn Révész S. 5 sagt, daß die beiden Tone eines Intervalls in tiefer Lage »bekanntlich viel kleinere Höhendistanz« haben als in mittlerer? Ich habe bis jetzt immer nur gerade das Gegenteil empfunden, der Schritt von groß C zu Kontra-ß ist mir stets sehr viel größer, gewaltiger erschienen, als etwa der von klein c zu groß B, und entsprechend erscheinen die Sekunden in noch tieferer Region als groteske Riesenschritte. ohne daß das Ohr über ihre »Qualität« den geringsten Zweifel hat. Fest steht ja, daß zufolge der allzu großen Schwerfälligkeit der tiefsten Töne im allgemeinen schnelle Gange in Kontrabaßlage gemieden werden. Aber daran denkt wohl Révész nicht. Auch daß Paukentöne qualitätslos sein sollen, fordert den "Widerspruch heraus; einer Illusion bedarf es nicht, die Intervalle der Pauken in Beethoven's 8. und 9. Sinfonie zu erkennen. Nein, Révész's »Qualität« ist nicht eine »von der Tonhöhe unabhängige« Eigenschaft. Das was ich in meinen Elementen der Musikästhetik mit dem etwas schwerfälligen Namen »Relativität der Tonhöhenqualität«, d. h. Beziehbarkeit der Einzeltonhöhenwerte aufeinander bezeichnet habe, ist vielmehr identisch mit der Tonhöhe selbst, soweit diese überhaupt für die Musik in Betracht kommt. Dali die Abstufung der Tonhöhen nach den vom Ohr geforderten erkennbaren harmonischen Beziehungen, welche die Skala repräsentiert, nur dazu da ist, die Melodiebewegung meßbar zu machen, daß die Intervalle, um welche einander folgende Töne der Melodie voneinander abstehen, nicht isolierte Einzeltöne nacheinander bringen, sondern von der Phantasie (kata thn thz aisqhsewz jantasian) ausgefüllt werden, als wenn sie mit stetiger Veränderung der Tonhöhe durchlaufen würden, hat bereite vor mehr als 2200 Jahren Aristoxenos in bestimmtester Weise formuliert (Harm. 8-9). Die beiden voneinander unabhängigen Eigenschaften der Tonhöhe Révész's sind im Grunde nichts anderes als die beiden von Aristoxenos unterschiedenen Möglichkeiten der Handhabung der Tonhöhenveränderung (kinhsiz jwnhz), nämlich das sunecez und das exhz, von denen das letztere nur ein künstlerischer Ersatz für das naturalistische erstere ist. Darin, daß Révész selbst die »Qualität« eine musikalische, nennt, liegt ja aber für den schärfer Blickenden schon das Eingeständnis, daß dieselbe bereits der Kunst selbst angehört und daher für tonpsychologische Untersuchungen im heutigen Sinne eigentlich nicht herangezogen werden kann, ohne eben auf das Gebiet der Tonvorstellungen überzutreten, von welchen die Tonpsychologie sich doch ausdrücklich fernhalten will.