Originally published in Archiv für die Gesamte Psychologie, 66, 467-500.
Hermann Triepel, Breslau.
Als ich vor kurzem das Buch "Wer ist musikalisch?" von Johannes von Kries las, traten mir aus meiner Jugendzeit Erfahrungen über falsche Beurteilung gehörter Töne, die ich in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gemacht hatte, wieder ins Gedächtnis; ihre Mitteilung an dieser Stelle ist vielleicht nicht ohne Interesse. Mein Vater, der nicht Musiker von Beruf war, aber doch als hochmusikalisch bezeichnet werden mußte, gab auf Befragen die Höhe von Tönen, die auf dem Klavier angeschlagen, oder die Tonart von Stücken, die ihm vorgespielt wurden, um einen halben Ton höher an, als es der Lage der angeschlagenen Tasten oder der Wiedergabe der gespielten Stücke in Notenschrift entsprochen hätte. So bezeichnete er z. B. ein "es" als "e", ein "a" als "b", und es ist anzunehmen, daß das Hören von "es" und von "a" in ihm auch die Tonvorstellungen "e" und "b" hervorgerufen hat. Dieses eigentümliche Verhalten kam nach Lage der Sache nur gelegentlich zur Beobachtung und wurde aus naheliegenden Gründen nicht genauer verfolgt, geschweige denn systematisch untersucht.
Der Grund für die beobachtete Erscheinung lag, wie ich schon früher vermutete und auch jetzt noch glaube annehmen zu müssen, wohl darin, daß mein Vater viele Jahre, 1850-1865, mit verhältnismäßig kurzen Unterbrechungen, in Paris gelebt, dort viel Musik gehört und selbst auf Pariser Instrumenten gespielt hat. Bekanntlich steht die französische Stimmung etwas tiefer als die deutsche, und man kann sich denken, daß das Gehör des Deutschen sich im Laufe der Zeit vollständig der französischen Stimmung angepaßt hatte: dann mußten ihm deutsche Töne höher zu liegen scheinen, als es nach der Aussage ihres Namens der Fall war.
Zu den angeführten Daten kam noch ein anderer Umstand hinzu. Mein Vater hatte sich, wahrscheinlich zu Anfang seines Pariser Aufenthaltes, ein von der französischen Firma Boucher geliefertes Pianino angeschafft. Das Instrument, das ihm ans Herz wuchs, brachte er mit nach Deutschland, und er hat es auch hier noch, so viel ich weiß, lange Zeit selbst gestimmt. Dabei wurde wohl, was verständlich wäre, die alte französische Grundstimmung nach Möglichkeit beibehalten. Als dann in den achtziger Jahren ein deutscher Flügel ins Haus kam und beide Instrumente provisorisch in benachbarten Räumen aufgestellt waren, erschien selbst dem noch wenig geübten Ohr des Knaben der Unterschied ihrer Stimmungen ganz außerordentlich groß. Beiläufig sei bemerkt, daß mein Vater zu dieser Zeit wegen eines Augenleidens nicht mehr Noten las.
Psychologisch ist die geschilderte Erscheinung etwa folgendermaßen zu deuten. Infolge langjähriger Beschäftigung mit Musik, die in französischer Stimmung dargeboten wurde, hatten sich in dem nervösen Zentralorgan und damit in der Seele meines Vaters Tonvorstellungen gebildet und festgesetzt, die jener Stimmung vollkommen entsprachen. Mit ihnen wurden die Tonbezeichnungen assoziiert, die eine Tonskala zusammensetzen. Wenn nun ein deutscher, also höher gestimmter Ton erklang, wurde bei dem Hörenden eine höhere Tonvorstellung erweckt und zugleich die mit ihr assoziierte höhere Tonbezeichnung ins Bewußtsein gerufen. Die psychische (und somatische) Grundlage der Tonvorstellungen ist vermutlich ein kontinuierliches Gebilde, das sich über den ganzen Umfang der wahrnehmbaren Tonreihe erstreckt. Beim Erklingen bestimmter Töne oder Klänge werden einzelne Stellen dieses Gebildes erregt, die Erregung führt zur Bildung von Tonvorstellungen und wird weitergeleitet auf andere bereitliegende Vorstellungen von Gliedern einer diskontinuierlichen Tonskala. Diese Tonreihe ist die uns geläufige der bei dem Klavier hergestellten gleichschwebenden Temperatur.
Man könnte vielleicht glauben, daß die beschriebene Erscheinung nichts anderes sei als das Zeichen von Mängeln eines absoluten Gehörs. Aber davon kann wohl keine Rede sein. Ich will mich hier gar nicht auf die erwähnte hohe Musikalität meines Vaters beziehen, denn mein Urteil könnte in diesem Falle nicht objektiv genug sein; dagegen möchte ich das hervorheben, daß die Abweichungen von der erwarteten Tonbestimmung sich stets in derselben Richtung bewegten; gehört wurden die Töne nur in einer höheren Tonlage als die war, die sie wirklich einnahmen, nie in einer tieferen. Sie hätten um eine mittlere Lage schwanken müssen, wenn das Tonunterscheidungsvermögen unzureichend gewesen wäre.
Gegen meine Auffassung ließe sich einwenden, daß in dem beschriebenen Falle die Höhendifferenz einen halben Ton betrug, während der Unterschied zwischen der französischen und der deutschen Stimmung wesentlich geringer ist und nur ungefähr ein Komma (81:80=1,0125) beträgt. Auf den Kammerton kommen nach deutscher Stimmung 440 Schwingungen, nach französischer 435, das Verhältnis der beiden Zahlen ist 440 : 435 - 88 : 87 = 1,0115. Ein derartiges Intervall ist einem musikalischen Gehör auffallend, es wird aber von diesem nicht als ein halber Ton (16 : 15 = 1,0666) gewertet werden. Unter diesen Umständen wird man wohl versuchen müssen, in die angegebene Deutung des beschriebenen Falles noch einen neuen Gesichtspunkt hineinzubringen.
Vielleicht ist es möglich, die beobachtete Änderung in der Einstellung des absoluten Gehörs mit der Gewöhnung an die Teilung der Oktave in zwölf halbe Töne zu erklären. Es ist mir wahrscheinlich, daß mein Vater beim Erklingen eines Tones, z. B. eines "es", in deutscher Stimmung zunächst auch die Vorstellung dieses Tones bildete, schon deswegen, weil jeder Ton seine eigene Klangfarbe besitzt. Doch wird er, weil er unter dem Einflüsse der Pariser Stimmung stand, bei entsprechender Überlegung geneigt gewesen sein, trotz des zuerst empfangenen Eindruckes den gehörten Ton an höherer Stelle der Tonskala einzuordnen. Geläufig war ihm die Tonfolge des temperierten Klaviers und nicht etwa die ganz moderne Vierteltonskala, und so wird es verständlich, daß er die Lage des gehörten Tones um ein halbes Tonintervall zu hoch einschätzte, also "es" für "e" hielt.
Ob das ungewöhnliche Hören in dem beschriebenen Falle durch lange Zeit oder dauernd sich erhielt, ist mir nicht erinnerlich. Ein gleicher Fall, in dem die von einer Person empfangenen Eindrücke musikalischer Töne oder die über sie gemachten Aussagen von der wirklichen Tonlage stets in derselben Richtung abgewichen wären, und in dem sich für diese Erscheinung ein einigermaßen plausibler Grund hätte angeben lassen, ist mir nicht bekannt geworden. Es müßte sich durch darauf gerichtete Untersuchungen trotz entgegenstehender Schwierigkeiten feststellen lassen, ob durch lange Gewöhnung an eine bestimmte Stimmung die Auffassung und Auslegung gehörter Töne in besondere Bahnen gelenkt wird. Sollte das zutreffen, so könnte man versucht sein, von einer Beeinflussung des absoluten Gehörs durch die Stimmung zu reden; das wäre indessen nicht richtig, denn die Fähigkeit, Tonhöhen zu empfinden, kann in keiner Weise von einer instrumentalen Stimmung abhängen.