Originally published in Zeitschrift für Musikwissenschaft, 8, 267-70.
Von Albert Wellek, Wien.
Anmerkung der Schriftleitung: Wir treten hiermit in die Erörterung der Frage der Tonarten-Charakteristik ein und bringen zunächst eine Arbeit von Albert Wellek.
Ad 1): Wir halten Weiß für die Farbe der Freude; die Chinesen halten es für die Farbe der Trauer. Der eine hält Grün für die Farbe der Hoffnung, der andre für die der Sättigung und Bescheidung. Dennoch bleibt Grün Grün und Weiß Weiß und beide voneinander sehr deutlich verschieden, auch ihrem Wesen nach. Daß dieses sich in Worten und Begriffsformeln weder so noch so eindeutig und für jedermann befriedigend festlegen läßt, beruht auf dem Wesen der Sinnesempfindungen überhaupt, die durchaus nur Gegenstand der inneren Erfahrung und weiter nicht bestimmbar oder definierbar sind. Für Grün gibt es eben letzten Endes immer wieder nur eine Umschreibung oder Erklärung: nämlich Grün, ebenso für A-Dur immer wieder nur A-Dur;-- und wer es nie erfahren hat, dem werden es keine Worte und Definitionen der Welt vermitteln. Ebenso ist auch der Gefühlston, der einer Farbe oder Farbenharmonie inne-- wohnen mag, sehr relativ und in Worten kaum zu deuten. Goethe in seiner Farbenlehre hat es in seiner Weise versucht; jeder von uns, und jeder in anderer Weise, wird anderer Meinung sein. Haben die Farben deshalb keinen "Charakter ?-- Und hat man etwa überhaupt ein Gefühl gefunden, das sich "allgemeingültig" definieren ließe ? etwa gerade das allererste Substrat der Kunst: das Gefühl des Schönen oder des Erhabenen?
Ad 2 und 3): Daß das Meistersinger-Vorspiel, wie jedes andere Meister-Stück, wie auch immer transponiert, sein eigentlichstes Wesen nicht verändert, beweist wohl, daß der Geist, oder die Gestalt, den Stoff zwingt und in seiner Eigenbedeutung vernichtet; nicht aber, daß an diesem Stoff durch die Verschiebung keine wesentliche Veränderung vor sich gegangen wäre.
Die mannigfachen, hauptsächlich historischen Schwankungen der Stimmung sind im großen ganzen als äußere Anzeichen der gewaltigen Umwälzungen zu werten, denen das Musikempfinden und Musikhören im Laufe der Zeiten unterworfen ist. Darüber hinaus sind hierin wieder beredte Beweise für die große Anpassungs- und Umdeutungsfähigkeit des menschlichen Ohres gelegen, welcher (der von Dr. Unger zu Unrecht angegriffene) Hermann Stephani neuerdings ein überaus lichtvolles Schriftchen: "Grundfragen des Musikhörens" gewidmet hat. Dieser sehr achtenswerten Quelle zufolge kann ein Ton bis zur Spannweite eines Vierteltons (nach beiden Seiten) umgehört werden, und dies ist eben der Grund, warum eine Tonart auch bei sehr erheblichen Schwankungen der zugrunde liegenden Schwingungszahlen dennoch in ihrem Wesen und Charakter dieselbe bleiben kann. Überdies dürfte sich erst seit der Festlegung einer Einheitsstimmung das Stufenbewußtsein herausgebildet haben, mit dem wir heute den Tonarten gegenübertreten. Ob sich nun bei einer so großen Abweichung, wie der der amerikanischen oder englischen Stimmung von der unsrigen, das Ohr "an die neue Stimmung gewöhnt" oder nicht, ist durchaus nicht von vornherein ausgemacht, sondern individuell: Die Feinhörigkeit widersetzt sich, aber die Umhörungs-Energie, die Stephani mit Recht als eine hochzuwertende musikalische Fähigkeit veranschlagt, sucht diesen Widerstand zu überwinden. Gelingt ihr dies nicht, so ist die Wirkung der fremden Tonart für den Musiker gewiß überaus störend,
Aus eigener Erfahrung [2] kann ich berichten, daß es mir in England, nach anfänglicher Mißstimmung des Ohres, doch ziemlich bald gelungen ist, mich zu akklimatisieren (vielleicht sogar im wörtlichen Verstände: unter dem Einfluß der veränderten Umgebung). Hingegen konnte es mir noch kürzlich zustoßen, daß selbst der Unterschied zwischen einem etwas überspitzten Kammerton und dem Normalton mir beim Anhören von Kammermusik im Laufe eines vereinzelten Abends die peinlichste Ungewißheit verursachen konnte. Denn das Ohr, das durch Gewöhnung an (oft ja noch unternormale) Klaviere einseitig und sogar ein wenig falsch eingestellt sein mochte, faßte ganze Partien um einen Halbton höher auf als geschrieben und empfand sie also sehr befremdlich; und eher nur durch. Sammlung und Willen vermochte es sie in die richtige und angemessene Lage umzudeuten.
Dr. Ungers Schlußsentenz möchte ich also folgendermaßen umprägen: "Schließlich macht doch der Ton, nicht seine zufällige Schwingungszahl die Musik". Der Ton nämlich-- das ist das grundsätzliche Mißverständnis-- ist eine psychologische und nicht eine physikalische, exakt an die Schwingungszahl gebundene Tatsache. D. h. (mit Keyserling zu reden): wie immer, schafft auch hier die Bedeutung den Tatbestand. So kann akustisch ein und derselbe Ton auf dem Klavier zwei psychologisch, d. h. musikalisch durchaus entgegengesetzte Tatbestände: "cis" und "des" bedeuten und mithin tatsächlich auch erschaffen. (Nach Stephani sind es nicht weniger als 9 verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten, die der Ton, ohne selbst seine physikalische Beschaffenheit im mindesten zu ändern, im temperierten Systeme hat.) Der "Name" des Tones ist bei weitem nicht so "zufällig" und belanglos wie eben seine "exakte" physikalische Beschaffenheit. Denn der Name und das Notenzeichen gibt die Norm an, als welche er vom Künstler gedacht ist, und an welche er in jedem konkreten Falle durch das schöpferische Hören des Genießenden angepaßt werden soll.
Natürlich werden ältere Musikwerke, die noch an keine feste Stimmungsnorm gebunden waren, meist gerade in die Zwischenräume des durch das stets neue Erleben der Normalstinummg uns eingeprägten Stufennetzes fallen müssen. Es würde wohl in einen Irrgarten ungelöster und vielleicht überhaupt unlösbarer Fragen führen, sollte man entscheiden, wie die Tonlagen, in denen etwa Bach seine Werke gedacht hat, psychologisch sich zu jenen verhalten haben mögen, in denen wir sie heute erleben. Eine Rückgewöhnung wäre hier wohl schwer denkbar, und eine nur annähernde Rücktransposition auf eine andere Stufe unseres Normalstufennetzes könnte gewiß nur eine irreführende Vorstellung geben; denn zweifellos wären wir nicht imstande, sie in jene historisch gewordenen und überdies stets schwankenden exakt nicht wohl verbürgbaren Zwischenräume hinein- und umzuhören.
Zu behaupten, die Töne und Tonarten hätten keine "Charakteristik", d. h. keinen ihnen eigentümlichen und sie voneinander unterscheidenden Charakter, heißt behaupten, daß sie außer den rein physikalischen Eigenschaften überhaupt keine besonderen Eigenschaften haben: daß es "Tonfarben" nicht gebe. Dies also (daß ein Ton wie der andre sei) kommt der Behauptung des Farbenblinden gleich, der erklärt, "Farben "seien Einbildung und "Aberglauben"; wo andre Leute von Gelb und Blau reden, gebe es nur einen kleinen Unterschied an Helligkeit.
Der Vergleich trifft aufs genaueste zu; denn rein physikalisch sind die Farben (so gut wie die Töne) nichts weiter als Sehwingungswellen von unterschiedlicher Länge und Frequenz: 'und der gewaltige (den meisten so wohlbekannte) Charakterunterschied der Farben als seelischer 'Eindrücke geht aus diesen quantitativen, nicht qualitativen Verschiedenheiten in keiner Weise hervor. Nur in einer Äußerlichkeit hinkt der Vergleich: nämlich rein zahlenmäßig. Denn allerdings ist Farbenblindheit die Ausnahme, hingegen absolutes Gehör, ja überhaupt der Sinn für die Qualitäten oder "Farben" der Töne gewiß verhältnismäßig selten. Andrerseits wieder bei weitem nicht so selten, als oft gerade diejenigen meinen, die davon geringschätzig sprechen (- und die es selber nicht haben). Dies kommt daher, daß man, durch den superlativischen Klang des Wortes "absolut" verleitet, unter "absolutem Gehör" zu gerne ein vollkommenes: gewissermaßen ein absolut absolutes Gehör fingiert, das es in Wahrheit kaum geben dürfte. Das absolute Gehör ist bei seinen verschiedenen Trägern von sehr verschiedener Ausdehnung, Gleichmäßigkeit und Treffsicherheit. Man kann z. B. auf dem Klavier vollkommen zuhause sein und trotzdem auf der Orgel keinen Ton erkennen. Oder wieder sind viele Leute, die mühelos imstande sind, eine Tonart wenigstens auf diesem oder jenem Instrumente frei zu erkennen, noch lange nicht fähig, einen unbezogenen Einzelton richtig anzusagen. So bekommen wir immer wieder zu hören, auch große Musiker, z, B. sogar Wagner, hätten kein absolutes Gehör gehabt. Dies kann natürlich nur von diesem Unbegriff von "absolutem Gehör" aus gelten; denn daß diese großen Komponisten mindestens einen tieferen inneren Sinn für das Individuelle (den Charakter) der Töne gehabt haben müssen, ist klar: wie wären sie sonst zu Meistern der Töne geworden? Von Wagner im besonderen haben wir sogar ein eigenes Bekenntnis: jenes von der Eingebung seines Rheingold-Motivs durch einen Traum, in welchem er ein Rauschen im Es-Dur-Dreiklang zu hören glaubte. (Was will man noch mehr ?)-- Und überdies: in wie vielen Fällen sind diese Fähigkeiten der Empfindung, besonders aber auch die zugehörige Richtung der Urteilskraft nicht so weit gediehen (oder zu dunkel gehlieben), als daß ein genaues Bewußtwerden und eine treffsichere Klassifizierung des Wahrgenommenen möglich wäre! Nichtsdestoweniger ist eine unklare Empfindung höchst real vorhanden und seelisch um gar nichts weniger wirksam, als wenn sie klar erkannt: nicht bloß perzipiert, sondern apperzipiert wird.
Das absolute Gehör ist eben weit davon entfernt, nur "eine wünschenswerte Gedächtnisfähigkeit" zu sein, vielmehr bedeutet es einen bestimmten Reichtum, ein gewisses Plus der oft kaum halbbewußten Empfindung. Dieser mehr oder minder hellsichtige Sinn für die "Tonfarben" ist von den feineren Verschiedenheiten der Klangfarben, auf welche Dr. Unger sehr treffend hingewiesen hat, natürlich ganz unabhängig. Mir selbst ist es nicht selten vorgekommen, daß ich beim ersten Anschlag etwa eines C-Dur gerade auf einem alten Klavier augenblicklich H-Dur empfand, also eine "Farbe", die auf einem richtig gestimmten Klavier nicht mit drei Untertasten, sondern mit zwei schwarzen und einer weißen hervorgebracht wird.
Nur wer aber bis zu dem Grade musikalisch und überdies nicht durch einen mißversttandenen Empirismus [3] darin gehemmt ist, daß er wenigstens ein unterbewußtes dunkles Verhältnis zu der Individualität der einzelnen Töne unseres Systems in sich erkennt, der kann doch eigentlich in unsrer Frage überhaupt erst mitreden.
Nun ist ja zwischen Allgemeingültigkeit und Vorhandensein überhaupt doch wohl ein gewisser Unterschied. Manche Erscheinung ist in ihren Auswirkungen zu fein und zart als daß es jedermanns Sache wäre, sie wahrzunehmen; dennoch ist einer, der so begnadet ist überhaupt nichts davon zu verspüren, bei weitem noch nicht berechtigt zu sagen, so etwas gebe es einfach gar nicht!
Eine Form des absoluten Gehörs z. B., und zwar die des visuellen Musikertyps, kann das Farbenhören (und Tönesehen) sein: im Bewußtsein des Farbenhörers wird die Qualität--was wir sonst nur bildlich Tonfarbe nennen-- durch die feste Verknüpfung mit einer Farbenvorstellung unfehlbar festgelegt. Doch finden sich wohl auf der ganzen Welt kaum zwei Farbenhörer die in ihren Parallelen von Tönen und Farben genau übereinkommen würden. Tut dies dem Vorhandensein, ja selbst einer gewissen Allgemeingültigkeit der Erscheinung auch nur den mindesten Abbruch ? Auf Tönesehen beruht unsere gesamte Notenschrift, von den Lektionszeichen und Neumen herauf bis zu unserem Fünf-Linien-System; die Anlage vieler, besonders altertümlicher Instrumente; ein Großteil unserer musiktheoretischen Namengebungen, besonders der Forrabegriffe; die Jahrtausende alte Idee von der Sphärenmusik; die Tonmalerei (im wörtlichen Verstände): will sagen, die optische Tonmalerei, wie z.B. der Feuerzauber: wer verstünde ihn nicht?1) Dr. Unger selbst erwähnt das Aufwärtsstrebende der Kreuzvorzeichen und das Sinkende der B-Vorzeichen: auch ist das Tönesehen und allgemeingültig, Freilich wohl ist nicht jeder im strengsten Sinne Farbenhörer (wenn auch viel mehr es sind als es sich selbst träumen lassen), nicht jeder hat auch nur einiges Verständnis für Farbenhören; dennoch wäre es äußerst fragwürdig, wollte er sich deswegen zu einem "unbedingten Verneiner des Vorhandenseins" einer solchen Erscheinung machen und sie ins Reich des "Musikaberglaubens" verweisen! Da möchte man denn doch dem ungenannten Gesinnungsgenossen mit seiner "unkontrollierbaren" "inneren Erfahrung" eine Verbeugung machen. Denn schließlich erkennt ja selbst die allereinfachste Schullogik und Schulpsychologie die "innere Evidenz" der subjektiven Wahrnehmung als einen elementaren, schlicht hinzunehmenden Tatbestand an.
Wenn also einzelne-- und gewiß die besseren Musiker!-- verschiedene Qualitäten und "Charaktere" der einzelnen Töne und Tonarten empfinden: was gibt es dann da überhaupt noch zu streiten!?
Mit der unanfechtbaren Tatsache des absoluten Gehörs ist die Tatsache der Tonarten-Charakteristik ebenso unanfechtbar gegeben.
[1] Erwiderung auf Dr. Max Ungers Aufsatz im Februar-Heft (S. 81ff.) der Zeitschrift.-- "Für die Leser der Z. f. M.": Es ist ein wenig beschämend, daß Männer, die ernste Musikforscher sein wollen, das Ergebnis einer langwierigen Debatte, wie ich es im letzten November-Heft (S. 618) in einer langen Kette von Begründungen festgestellt habe, dadurch umstoßen wollen, daß sie in einem Satze und ohne einen einzigen Gegengrund, bloß mit neuerlicher Berufung auf die Physik, die in der Frage des Anschlags auf dem Klavier als völlig belanglos erwiesen wurde, einfach nur wiederholen, was zu allem Anfang der Debatte behauptet und endlich soweit widerlegt worden war.
[2] "...Er führt sodann mit viel Humor / sich selbst als lehrreich Beispiel vor."
[3] Der müßte nicht vor, sondern nach dem Kriege "geschlafen" haben, wer der
Nachkriegszeit "rationalistische Einstellung" zum Vorwurf machen wollte. Denn
gerade mit dem Kriege hat der Positivismus nach langer Vorherrschaft endlich
abgewirtschaftet und einer geistigeren Weltanschauung Platz gemacht. In der
Wissenschaft freilich ist jeder derartige Gegensatz nur ganz acheinbar: denn
wenn jemand z. B. meint, die Schwingungsazahl und -weite, überhaupt die
Quantität und nicht die Qualität sei es, was die Musik macht, so huldigt er
keineswegs einer «rationalistischeren" Anschauung, sondern ist ganz einfach im
Irrtum-- also gerade ganz unrationall D. h. er äußert sich so nicht als guter
Physiker, sondern als schlechter Psychologe.