Zur Typologie des Gehörs und des Musikerlebens überhaupt

- Neuestes über das absolute Gehör -

Originally published in Zeitschrift für Musikwissenschaft, 13, 21-8.

Albert Wellek, Wien.

Das aufschlußreiche Referat von Heinrich Hein [1] über die so äußerst verdienstvollen experimentellen "Untersuchungen über das absolute Gehör" von Lothar Weinert lädt zu einigen Nachträgen bezüglich des allerjüngsten Standes der "Typenfrage" ein: diese ist ja (wie auch Hein hervorhebt) nach den Weinertschen Untersuchungen durchaus offen geblieben.

Die von Weinert getroffene Unterscheidung eines "unipolaren" und eines "bipolaren" Typs-- die sich mit Unterscheidungen O. Abrahams [2] vollkommen deckt-- betrifft nämlich nicht im engeren und eigentlichen Sinne Typen des absoluten Hörens, insofern hier nicht die Art und Weise der Tonerkennung, sondern gewissermaßen nur ihre Ausdehnung in Frage steht. Ich möchte nicht anstehen, diese Typen quantitative zu nennen. Allerdings handelt es sich hier um die Erstreckung auf einen ausgezeichneten Bereich der möglichen Leistungen des absoluten Tonbewußt-seins (nämlich um die Fähigkeit der aktiven Tonhöhenreproduktion); doch zeigen sich hierin gewisse Zusammenhänge auch mit anderen, allgemeineren Ausdehnungsverhältnissen. Weinert selbst vermutet, daß der der Tonreproduktion unfähige "Unipolare" es ist, der meist auch bei der Tonbeurteilung von der Klangfarbe sehr abhängig und an wenige bestgewohnte timbres mehr oder minder gekettet ist;-- was sich nach meinen Beobachtungen in vielen Fällen bestätigt, wenn auch bei weitem nicht immer. Aller Voraussicht nach dürften sich in dieser quantitativen Richtung noch andere Typen und Untertypen ergeben; wozu ja schon jetzt auch die Weinertsche Unterscheidung von totalem und partiellem (d. i. durchgängigem und stückhaftem) absolutem Gehör gezählt werden kann.

Was nun aber meine "Annahme" gewisser qualitativer Typen angeht-- deren einen Hein in seinem Referat besonders heranzieht--, so verlohnt es vielleicht der vorläufigen Mitteilung, daß diese zur Zeit nicht mehr bloß Annahmen, sondern vollauf erwiesen sind, auf Grund eines experimentellen Materials, das an Umfang schon heute hinter dem Weinertschen kaum mehr zurücksteht. Es wurden von mir bislang 20 Fälle (darunter mein eigener) experimentell geprüft, zahlreiche weitere durch bloßes Befragen ermittelt. Von den erstgenannten wurden 15 Fälle in Wien, 3 in Prag und 2 in Hamburg untersucht, welch letztere dem Kreise der Weinertschen Versuchspersonen angehören und mir von Dr. Weinert selbst in liebenswürdiger Weise zugeführt wurden. Meine Untersuchungen an diesen 20 Beispielen fußen zunächst auf derselben auf G. Anschütz zurückgehenden Versuchsordnung wie die Weinertschen; doch wurde dieses Verfahren überdies auf dreierlei Weise ausgebaut:

1. Oktavzweiklänge

über die ganze Klaviatur (je 73 pro Versuchsreihe)

2.  Dur-

Dreiklänge (4 stimmig in enger Oktavlage)

3.  Moll-

Meine Nachprüfungen an den beiden Weinertschen Versuchspersonen in Hamburg bestätigten nun, auch bei Dreiklangs-Versuchsreihen, durchaus das von ihm gegebene Bild, will sagen, ein entschiedenes Vorwiegen der Halbton-Verwechslungen: mit mindestens 2/3 bis 3/4 der Gesamtfehlerzahl. Dahingegen ergab sich in Wien und in Prag schon bei Einzeltonversuchen kaum ein einziger Fall von eindeutig demselben Charakter wie dort! Vielmehr treten hier harmonische Fehlerintervalle, in erster Reihe die Quart- oder Quint-Verwechslung [3], in zweiter auch die Terzen in den Vordergrund. Der äußerste Fall dieser Art, der mir bisher begegnet ist, zeigt etwa 44-46%, bei Dreiklangs-Versuchsreihen sogar bis zu 50% Quart1-Fehler. Hier wird also die Grenze einer absoluten Mehrheit der Quart-Verwechslung im günstigsten Falle gerade gestreift; doch ergeben die konsonanten Fehlerintervalle (Quarten + Terzen) zusammengenommen eine gute absolute Mehrheit. Im Durchschnittsfalle dagegen hält der Quart-Fehler immerhin auch die relative Mehrheit, zum mindesten aber überwiegen die konsonanten Fehlerintervalle in ihrer Summe den Halbtonfehler. Oft tritt auch die Halbton- hinter der Ganztonverwechslung zurück, wobei letztere manchmal die relative Mehrheit erreicht. Und schließlich ist u. U. auch ein besonderes Hervortreten der Terzen-Fehler zu beobachten.

Die Ordnungssysteme, an denen sich das Gehör in verschiedenen Fällen zu orientieren scheint, können, alles in allem, die folgenden sein:

1. die Tonleiter
a) die chromatische,
b) die diatonische,

2a) der Quintenzirkel,
2b) die beiden Terzenreihen unseres harmonischen Systems.

Schon die bloße Tatsache von Fällen der zweiten Ordnung zieht zunächst nach sich, daß die von Weinert statistisch dargestellten Verhaltungsregeln des Absoluthörers nicht das absolute Gehör als solches, sondern nur einen Typ des absoluten Gehörs betreffen. Die Verschiedenheit der Fehlertendenzen beim Weinertschen Typ ("1") und beim Durchschnittstyp meiner Wiener und Prager Versuchspersonen ("2") erzwingt die Deutung, daß beiden Typen ein ungleiches, ja gegensätzliches Tonähnlichkeitserlebnis zugrunde liegt. Der eine Typ bildet lineare Ähnlichkeitsreihen, er orientiert sich an der linearen Funktion der Helligkeiten [3] ("Tonhöhen" im engeren, Révészschen Sinne); der andere folgt der unstetigen Punktperiode der Tonigkeiten [4] (nach Révész "Tonqualitäten"), deren Ähnlichkeitsfolge der Quintenzirkel ist und in der chromatischen Abfolge als ein Ineinander irrationaler Funktionen oder Kurven darzustellen wäre. Ich nenne dies 1. lineares, 2. polares Gehör [5]: "linear", wenn Nachbartöne als nächstähnlich, "polar", wenn Nachbartöne als gegensätzlich erlebt werden.

Diese beiden Haupttypen des absoluten Gehörs erinnern in dieser theoretischen Fassung an die von Révész versuchte Unterscheidung zweier "Arten des absoluten Gehörs" [6]; meine "Annahme" scheint die von Révész (so wie Hein sie gibt) miteinzuschließen. Von den Behauptungen Révész' dürfte indes nur die eine, wesentlichste, standhalten: daß eben die absolute Tonerkennung sich vorwiegend entweder an der "Tonhöhe" oder aber an der "Tonqualität" orientieren kann. Auch dies wird indessen nur so zu verstehen sein, daß in der äußerst komplexen Ganzqualität, als welche ausnahmslos der Ton im Bewußtsein des Absoluthörers gegeben ist, einmal die Helligkeit, einmal die Tonigkeit sozusagen an die Spitze, oder an einen ausgezeichneten Punkt treten kann. In dieser Gesamtqualität des Toncharakters spielt neben den Komponenten des Tons "an sich" vor allem die Klangfarbe, aber auch die Lautheit ihre Rolle, außerdem aber vielerlei Vorstellungselemente (besonders räumliche, visuelle, motorische, taktile) und die Fülle von "gestaltdispositionellen" [7] oder musikalischen Erfahrungs-Gegebenheiten, durch die ein Ton seinen Rang und Posten in eben jenen Systemen einnimmt, von welchen besonders Hein nachdrücklich spricht.-- Eine typologische Scheidung in meinem Sinne wird von Révész indessen nicht vorgenommen und vor allem keinerlei Kriterium zur empirischen Unterscheidung der beiden Arten herausgefunden, vielmehr die leider hinfällige petitio principii vorausgesetzt, daß bei sicherer Tonerkennung "Qualitätenerkennung", bei unsicherer, tappender aber "Tonhöhenerkennung" vorliegen müsse [8]. Unhaltbar ist dementsprechend auch die Annahme Révész', daß Qualitätenerkennung der Mittellage, Höhenerkennung den Randlagen zukomme.

Zwischen Révész und Weinert liegt in der Mitte die Wahrheit. Es gibt weder bloß eine Art des absoluten Tonerkennens, noch eine doppelte, in bestimmter Weise wechselnde; sondern es gibt zwei Haupttypen, in welchen die eine oder die andere Art grundsätzlich tonangibt (im wörtlichsten Sinne!) oder Fundament der Erkennung ist.

Im einzelnen indessen ist die Diagnose des Typs aus der Fehlerstatistik oft mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Ein Grenzfall-- der mir bisher nur einmal begegnet ist-- ist der, daß im Gesamtbereich der Klaviatur kein Fehler (vom Standpunkt des Prüfers gesprochen!) erzielt werden kann. Nicht selten ist dagegen der bloße Annäherungsfall, daß ein breiter geschlossener Bereich durchaus fehlerrein bleibt: selbstverständlich immer die Mittellage. Diese ist das Gebiet, in welchem der Toncharakter in reinster Ausprägung, die Tonigkeit aber fast ausschließlich klar in Erscheinung tritt; doch auch die Helligkeit, und folglich die Distanz, erfährt in den Randlagen des musikalischen Tonbereichs Schwankungen und Verzerrungen (so daß das Weber-Fechnersche Gesetz hier selbst die annähernde Gültigkeit einbüßt, die ihm in der Mittellage zukommt). Diese Tatsache einer musikalischen Mittellage wird indes womöglich noch deutlicher in Fällen, wo sie nicht durch Fehlerreinheit ausgezeichnet ist, jedoch bei einer gesonderten Fehlerstatistik ein ganz anderes Bild bietet als die Randlagen. Es gibt Fälle, deren Gesamtfehlerstatistik ein sehr unklares oder sogar ein einigermaßen "lineares" Bild zeitigt; wenn man aber von den 7 Oktaven der Klaviatur, je nach dem Fall, 3, 4 oder 5 aus der Mitte heraushebt, so ergibt sich an diesen eine eindeutig polare Fehlerdisposition-- bis zu völligem Verschwinden der Halbtonverwechslung. Die eigentlichen musterhaften Tatbestände des Musikerlebens gelangen eben in einem geschlossenen mittleren Tonbereich von fallweise verschiedener Ausdehnung-- einer (wenn auch nicht in ihren Grenzen) eben dadurch wohldefinierten "Mittellage"-- zum Ausdruck; während die Randgebiete ein mehr oder minder chaotisches Bild zu weisen pflegen. Gleichwohl hat die Révészsche Annahme, daß hier Tonhöhenerkennung, dort Tonqualitätenerkennung herrsche, selbst nur für den polaren Typ keine Gültigkeit: Es gibt polare Fälle, bei welchen sich die polare Anlage auch, und gerade, in den Randlagen äußert; doch dürfte die Vermutung von Révész sehr wahrscheinlich auf eine Verallgemeinerung aus Fällen der eben beschriebenen Art zurückgehen.-- Allgemein lassen sich Fälle mit und ohne abgehobene Mittellage unterscheiden; von ersteren liefern diejenigen, deren Mittellage durch Fehlerlosigkeit ausgezeichnet ist, statistisch regelmäßig das Bild des linearen Gehörtyps, ohne daß jedoch mit Sicherheit auf sein Vorhandensein geschlossen werden könnte.

Auf dem Klavier im besonderen, zumal beim Stutzflügel und Pianino, ist ein Baßregister im rein mechanisch-klanglichen Sinne in der Reihe der umsponnenen Drahtsaiten gegeben. Aber auch ein Diskantregister ist in der Mechanik an der Stelle gleichsam angezeichnet, wo das Dämpferpedal beginnt (oder aufhört), d. h. die Tragfähigkeit der Klänge zur quantité négligeable wird. Tatsächlich weist das zwischen diesen beiden Grenzen eingefaßte Gebiet von etwa H0 bis zur Mitte der dreigestrichenen Oktave-- also f3, wenn wir dreieinhalb Oktaven nehmen wollen-- die oben angegebenen, auch gehörstatistischen Eigenschaften einer Mittellage auf.

Nach alledem ist zur Typologie des absoluten Gehörs neben der Gesamtfehlerschau eine Sonderstatistik der Mittellage einerseits und der Höhen- und Tiefenlage andrerseits unbedingt erforderlich, und hiermit erscheint die Notwendigkeit einer derartigen-- unter allen Umständen mehr oder minder gewaltsamen-- Abgrenzung methodisch gegeben.

Wie schon gesagt, ist ohne solche getrennte Statistik ein Entscheid über den Typ oft nicht möglich. Da nun in dem von Weinert veröffentlichten Material über die Verteilung der Fehlergrößen auf die einzelnen Oktaven oder Lagen nichts ersichtlich ist, so läßt sich auf Grund dieses im Druck zugänglichen Materials ein linearer Typ für seine sämtlichen 22 Absoluthörer noch nicht mit Sicherheit behaupten: namentlich die Fälle mit fast oder ganz fehlerfreier Mittellage lassen die Frage offen.

Für die bisher besprochenen beiden Haupttypen des absoluten Gehörs finden sich indessen, glücklicherweise, noch andere Kriterien als bloß die Fehlergrößenverteilung. Hierher gehört u. a. ein verschiedenes Reagieren auf ungewohnte Stimmungen. (Umstimmungsversuche wurden von mir in größerer Zahl vorgenommen.) Die Schwelle der absoluten Unterschiedsempfindlichkeit (ohne Sukzessivvergleich) liegt beim polaren Typ höher. Auch eine ungleiche Rolle der Tastenverschiedenheit auf dem Klavier ist zu verzeichnen. Gleiche Bewanderung im Terminologischen gesetzt, ist die Fähigkeit, die Oktavlage eines Tons anzugeben, beim polaren Typ in der Regel geringer, fehlt hier mitunter fast gänzlich [9]; dasselbe gilt für die Unterscheidung von Oktavzweiklängen gegenüber Einzeltönen (bei gleicher Lautheit) und für die Bestimmung der genauen Lage an jenen. Nicht als maßgeblich kann hingegen die Introspektion der Versuchspersonen hingenommen werden. Die Verschiedenheit des Toncharakter-Erlebnisses, um die es sich hier handelt, ist noch so wenig sicher geklärt und begrifflich so schwer zu fassen, auch ohne Kenntnis der entgegengesetzten Möglichkeit meist so wenig erfühlbar, daß gerade bei theoretisch gebildeten Versuchspersonen die Frage mit einem Fragezeichen beantwortet zu werden pflegt. Schon die Unterscheidung Helligkeit-- Tonigkeit pflegt Schwierigkeiten zu bereiten: wie auch die Versuche Weinerts lehren, sich und seine Versuchspersonen damit auseinanderzusetzen.-- Einen besseren Angriffspunkt als diese theoretische Seite des Tonerlebnisses gibt die Frage nach dem Tonähnlichkeitserlebnis ab; aber auch hier ist die Beantwortung je nach den introspektiven Fähigkeiten der Versuchsperson von sehr ungleichem Wert. Zugleich ist auch hier eine gewisse Schwierigkeit der Fragestellung nicht zu unterschätzen. Versuche über Tonähnlichkeit (von der Oktavähnlichkeit abgesehen) sind bisher im allgemeinen negativ verlaufen [10]; Ähnlichkeiten unter den Tönen in diesem unserem Sinne werden daher z. B. noch von Hornbostel in Abrede gestellt [11].

Weitere typologische Kriterien finden sich indessen auch jenseits des absoluten Hörens. Schon die Frage der Tonähnlichkeit kann auch Nicht-Absoluthörern mit Erfolg gestellt werden. Feste Systeme von Toncharakteren und Ähnlichkeitsverhältnissen unter diesen sind auch geistesgeschichtlich aufzuweisen, z. B. in der altindischen Metrik (wo sie also überindividuell sind) [12];-- womit sich auch die Heinsche Hypothese eines allgemeinen latenten absoluten Gehörs begegnet. Auf alle Fälle ist das absolute Gehör nur ein Grenzfall, in welchem in klaren, nämlich bewußteren Zügen (daher auch statistisch am greifbarsten) "Gesetze" des Musikhörens und Musikerlebens überhaupt beschlossen sind. So kann es nicht wundernehmen, daß beim relativen und Harmoniehören dieselben typologischen Möglichkeiten zum Ausdruck gelangen wie beim absoluten. Wie die Distanz und Klangbreite der Helligkeit, Intervallfarbe und Akkordfarbe aber der Tonigkeit5 entspringen und (in höherer Gestaltfügung) zugeordnet sind, so ist ein Typ beim Intervall- und Akkordhören vorwiegend auf Distanz und Breite, der andre aber auf "Farbe" eingestellt; übrigens aber mit fortschreitend schwächerer Ausprägung dieser typologischen Gegensätzlichkeit, je einheitlicher die in Frage stehenden Strukturen gefügt sind. Jener ist der lineare, dieser der polare Gehörtyp, und auch beider Vertreter unter den Absoluthörern zeigen die nämliche gegensätzliche Einstellung zu Tonzwei-heiten und -mehrheiten: hieran sind sie also u. U. auch zu erkennen.

Überflüssig, zu betonen, daß es auch Mischfälle gibt und eine Reihe von Untertypen, deren einige oben bereits angedeutet sind. Vor allem kommt es vor, daß die Gesamthaltung eines Gehörs sich höheren Komplexqualitäten gegenüber verschiebt. Schon die Sicherheit der absoluten Tonerkennung wird Dreiklängen gegenüber manchmal erheblich größer oder geringer, manchmal bleibt sie gleich, manchmal ändert sie sich nur bei Dur- oder nur bei Moll-Dreiklängen, manchmal bei beiden in gleichem, manchmal in ungleichem Grade. Insbesondere die Fehlerneigung in der Mittellage kann relativ verändert sein. Ebenso kann die lineare oder polare Fehlerdisposition bei Dreiklängen (prozentuell) verschoben sein, und dies in denselben gleichen oder ungleichen Verhältnissen. Nicht ganz selten scheint vor allem der Fall, daß ein bei Einzeltönen vorwiegend linear scheinendes Gehör bei Dreiklängen, oder auch nur bei Dreiklängen eines Tongeschlechts, vorwiegend polares Gepräge gewinnt. Ähnlich verhält es sich mit Oktavzusammenklängen, bei welchen das typologische Bild wohl kaum je umschlägt, jedoch die Sicherheit im allgemeinen, aber nicht ohne gegenteilige Ausnahme, zunimmt.

Nun ist überdies auch ein 3. Typ des absoluten Gehörs von mir auf- und festgestellt worden. Unter den bisher von mir experimentell behandelten Absoluthörern fanden sich zwei analytische Vorstellungs-Synoptiker (Einzelfarbenhörer), bei welchen die Farben im Falle der Unsicherheit wegweisend mitwirkt, und ein Fall von synthetischer Empfindungs-Synopsie (Bilderhören);-- diese letztere Art der Synästhesie scheidet hier aus, da sie nicht an den Einzelton anknüpft. Allgemein verstehe ich unter dem 3. Typ ein außertonlich bedingtes, oder auch nur mitbedingtes, absolutes Gehör, insbesondere also durch Farbenhören (Synopsie).

Fälle und Wege von mittelbarer (logischer) Erschließung eines Tonurteils aus außertonlichen Momenten sind schon von Abraham zusammengestellt und bewertet worden, hierunter auch ein von R. Hennig berichteter Fall, in welchem eine einzige Tonart von einem Photisma begleitet war und an diesem erkannt wurde. All dies ergibt nichts dem absoluten Gehör irgendwie Vergleichbares oder Ebenbürtiges; vor allem kommt höchstens etwas wie partielles absolutes Gehör dabei zustande. Aber selbst der hypothetische Fall, daß jedem der 12 Töne eine besondere Farbe zugeordnet und aus dieser auf ihn geschlossen wird, würde noch nicht eigentlich die Aufstellung eines synoptischen Typs des absoluten Gehörs rechtfertigen. Dies erzwingen vielmehr gerade nur Fälle, in welchen eine solche deutlich sukzedane und bewußte Bedingtheit des Tonurteils aus dem Sichtgebilde nicht nachweisbar, wohl aber eine Mitfunktion des Farbengehörs daran erkennbar ist. Die Farbe kann also nicht ausschließliches Mittel der Tonerkennung und doch conditio sine qua non für ihr Zustandekommen sein. Nicht immer dürfte es sich zeigen lassen, daß erst die Farbe sozusagen psychisch verarbeitet und nachher, womöglich gar bewußt, auf den Ton geschlossen wird: nicht immer ist die Seele so primitiv. Beide Erlebnisse können ineinander verwachsen sein; es kann "funktionelle Abhängigkeit" bestehen: Wechselbedingtheit, nicht (im engeren Verstände) Ursächlichkeit. In diesem Sinne wird von manchen Farbenhörern die Farbe in gestalthafter Verschmolzenheit mit dem Tone, als Eigenschaft am Tone selbst, erlebt und wäre für sie von diesem nicht loszutrennen, ohne daß er zerfiele.

Über diese Probleme ist schon an anderen Orten [13] vorläufig berichtet worden: so über den Fall Lach, bei welchem mit fortschreitenden Jahren das Farbengehör verblaßt und zugleich auch das absolute Gehör geschwunden ist. Wir wollen es hier umso eher bei diesen wenigen Andeutungen bewenden lassen.-- Indessen sei noch hervorgehoben, daß wohl auch dieser Typ eine ganze Reihe von Unter- und Zwischentypen zeitigen dürfte: so zu den beiden ersten und Haupttypen des absoluten Gehörs, und je nach dem Grade der Abhängigkeit vom Photisma. Das synoptische absolute Gehör kann seinerseits linear oder polar angelegt sein; es kann durchgängig oder teilweise (total oder partiell) synoptisch bedingt sein; es kann vom Photisma durchaus abhängig oder aber bloß gelegentlich von ihm gestützt sein: letzteres z. B. bei Unsicherheit in extremen Lagen, bei ungewohnten Klangfarben usw., wo dann das Urteil sich unter Umständen an dem "Dazupassen" einer bloß vorgestellten Farbe gleichsam zurechttastet. Auch dies: welchen Lebhaftigkeitsgrad und eidetischen Charakter das Sichtgebilde an sich trägt, bedingt weitere typologische Möglichkeiten. Im ganzen ist dieser 3. Typ zweifellos selten, aber so ziemlich jeder Fall scheint ein Typ-- oder vielmehr nur Untertyp-- für sich.

Auch dieser 3. Typ des absoluten Gehörs ist nur Grenzfall eines allgemeineren Typs musikalischer Anlage, welcher kurz als ein visuell mitbeteiligter bezeichnet werden mag. In dieser Richtung ergeben sich denn auch weittragende Konsequenzen der hier umrissenen Tatbestände. Vom linearen Gehörtyp scheint allgemein ein Wesensband zu einem analytischen Verhalten oder Charaktertyp, vom polaren hingegen zu einem synthetischen oder ganzheitlichen Verhalten hinzuführen. Darüberhinaus besteht ein unverkennbarer Zusammenhang zwischen linearem Hören und linear-polyphoner (Eine zufällige glückliche Äquivokation!), zwischen polarem Hören und vertikal-harmonischer Musikalität (auch gesteigertem Klangempfinden). Umso bedeutsamer, daß jener Typ im Norden Deutschlands, dieser im Süden beheimatet zu sein scheint [14]: und hiermit eröffnet sich vollends ein Ausblick auf eine neue Philosophie der Musikgeschichte auf objektiver Grundlage.

Um indes hierfür breitere Basis zu gewinnen, nehmen wir im folgenden notgedrungenermaßen unsere Zuflucht zum Fragebogen-Verfahren. Nicht daß der Fragebogen irgendwie das Experiment ersetzen sollte und könnte: er soll lediglich experimentell gesicherte Sachverhalte auf größere geographische Breiten ausdehnen helfen, als sie dem Experiment praktisch erreichbar sind.

Im übrigen wollen die vorliegenden Betrachtungen nur eine ganz vorläufige Skizze und Anbahnung einer umfassenden Phänomenologie der Musik bedeuten.

Fragebogen.

Der hier anschließende Fragebogen will sich mit dem Allernötigsten bescheiden, um desto leichter und zahlreicher beantwortet zu werden. Es wird also kein Versuch gemacht, den selbst heute noch geradezu mustergültigen und höchst prägnanten Fragebogen von Abraham (noch sonst einen anderen) zu überbieten. Da es sich uns vor allem um die Klärung einer völkerpsychologischen Vermutung handelt, war es leider unvermeidlich, auch nach der Herkunft des Beantworters zu fragen. Diese Frage möge mir also nicht verdacht werden!

Jeder Absoluthörer von jeder Nationalität ist herzlichst gebeten, meine wenigen Fragen an die Adresse Dr. Albert Wellek, Wien XIX, Pfarrwieseng. II zu beantworten. Es wird ersucht, die einzelnen Punkte der Antwort mit den Ziffern der Fragen zu versehen. Auch fremdsprachliche Einsendungen sind willkommen.

1. Name, Beruf, genaue Adresse.

2. Jahr und Ort der Geburt; Nationalität.

3. Wo aufgewachsen? An welchen Orten, und wann, hat Beantworter längere Jahre verlebt?

4. Daten der Eltern: Wo geboren? Wo auf gewachsen ? Nationalität?

5. Seit welchem Lebensjahre besitzen Sie Ihres Wissens das absolute Gehör?

6. Welche Töne außer den Oktavtönen-- in welchen Intervallen?-- erscheinen Ihnen einander ähnlich? Welche besonders unähnlich? (Nicht theoretisch, sondern rein nach dem unmittelbaren Eindruck!) Die Terzen? die Quint? der Halbton? der Ganzton? der Tritonus? die Septimen?

7. Unterscheiden sich für Sie die weißen und schwarzen Tasten des Klaviers grundsätzlich voneinander? Haben also die weißen einerseits und die schwarzen andrerseits für Sie etwas Gemeinsames an sich?

8. Was für Fehler-- in welchen Intervallen?-- beobachten Sie an Ihrem absoluten Gehör:

a) in der Mittellage (z. B. bei ungewohnten Instrumenten)?

b) in der Höhe?

c) in der Tiefe?

oder in allen Lagen gleich?

9. Kommt es vor, daß Sie Oktaven als Zweiklänge für einfache Töne halten (oder auch umgekehrt)?

10. Können Sie ohne Schwierigkeiten die genaue Lage (Oktave) eines Tones angeben? (Vergewissern Sie sich, ehe Sie Ja sagen!)

11. Beobachten Sie eine Störung in der Leistung Ihres absoluten Gehörs bei Ihnen ungewohnten Stimmungen ?

a) wenn eine Stimmung um einen Achtel- bis Viertelton

b) wenn eine Stimmung um einen Halbton

von der Ihnen vertrauten abweicht? Was für Fehler ergeben sich dadurch? (in welchen Intervallen?)

12. Verbinden Sie Musik oder einzelne Töne oder Tonarten mit Farben?

a) Immer? Auch unwillkürlich?

b) Nur gelegentlich und wenn Sie daran denken?

Wenn ja, führen Sie diese Farben an!


[1] Neues über das absolute Gehör, ZfM XII, 1930, S. 503-06.

[2] Das absolute Gehör, SIMG III, 1901, S. 46t

[3] Da bei mir, ebenso wie bei Weinert, eine Bestimmung der Oktavlage der gebotenen Töne im allgemeinen nicht verlangt wurde (auch nicht verlangt werden konnte), war nur eine schematische Buchung der Fehlergrößen möglich. Ein größeres Intervall als die Halboktav (der Triton) kommt demnach hier nicht in Betracht, Quarten und Quinten können ebensowenig unterschieden werden wie Terzen und Sexten usw. (Vgl. unten S. 25, Anm. 1.)

[4] Dieses Begriffspaar der Hornbostelschen Tonpsychologie ist dem von Révész
vorzuziehen, welches zu leicht mißverständlich wirkt.

[5] So zuerst in der ZfM XI, 1929, S. 474f. ("Das Farbenhören im Lichte der vergleichenden Musikwissenschaft").

[6] ZIMG XIV, 1913, S. 130ff.

[7] Der alte Ausdruck »assoziativ" würde eher auf die vorher genannten Beteiligungen der Vorstellung zutreffen.

[8] Vgl. auch Révész, Prüfung der Musikalität, Z. f. Psychologie LXXXV, 1920, S. 179f. Hier wird die "Oktaventäuschung" als Merkmal der "qualitativen" Gehörart angenommen, ja mit dieser gewissermaßen synonym gebraucht! (Vgl. indessen unten.)

[9] Vgl. auch Révész (a. a. O.) Da indessen die Fähigkeit, die richtigen Zeichen den richtigen Höhen zuzuordnen, eine Übung voraussetzt, die auch bei sehr bewanderten Musikern meist fehlt, ist ein zuverlässiger Befund hierüber oft unmöglich.

[10] So auch bei Révész im Hinblick auf die "Tonqualität". (Vgl. ZIMG XIV, 135.)

[11] v. Hornbostel, Musikalische Tonsysteme, Handb. d. Physik, Hg. Geiger u. Scheel, Bd. III, Berlin 1927, S. 428; Psychologie der Gehörerscheinungen, Handb. d. Physiologie, Hg. Bethe u. a., Bd. XI, Berlin 1926, S. 718. 4 Vgl. Wellek a. a. O., S. 480-83.

[12] v. Hornbostel, Psychologie der Gehörerscheinungen, a. a. O. (Hier wäre zu Intervall- und Akkordfarbe noch eine Melodiefarbe, zu Distanz und Breite ein Melodie-Profil hinzuzureihen.)

[13] Besonders ZfM IX, 1927, S. 583; auch Arch. f. d. ges. Psychologie, Bd. 76, 1930, S- 201.

[14] Hierfür bietet die bisherige Literatur noch zwei Anhaltspunkte: 1. Der Fragebogen Abrahams, der wohl vorwiegend in der nördlichen Hälfte Deutschlands zirkuliert haben wird, zeitigte unter 100 Beantwortern "mehrere . . . welche sich leicht um eine Quinte . . . irren, und einen, welcher öfter Fehler um eine große Terz macht. Alle diese Beobachter sind solche, welche sich nur ausnahmsweise um einen Halbton irren". (A. o. a. O. S. 8.) 2. Eine erst kürzlich, knapp vor der Weinertschen, erschienene Studie von M. Gebhardt (»Beiträge zur Erforschung des absoluten Gehörs im vorschulpflichtigen Kindesalter") schildert einen Fall aus Würzburg mit deutlichen polaren Merkmalen. (Arch. f. d. ges. Psychologie, Bd. 68, 1929, bes. S. 276 u. 280.)